Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

480 Uebersicht der Ertignisse des Tahres 1871. 
haftester Ausrüstung und Verpflegung, trotz unfähiger Offiziere und elendester 
Vorbereitung auf den Krieg sich theilweise besser schlagen sollten, als die 
kaiserlichen Truppen, das hat er geleistet zum nicht geringen Staunen der 
Welt. Aber der Gebrauch, den er von diesen improvisirten Armeen machte, 
war gänzlich verfehlt, seine gesammte Entsatzstrategie war ein einziger unge- 
heurer Irrthum von Anfang bis zu Ende. 
Auch dieser Irrthum war nur erklärlich bei einem Franzosen, in dessen 
Augen Paris der Inbegriff alles nationalen Lebens ist. Frankreich war 
enthauptet, seit Paris durch die Barbaren eingeschlossen war. Zum erstenmal 
ward von den Provinzen aus versucht, was bisher ohne Initiative der Haupt- 
stadt ein Ding der Unmöglichkeit geschienen hatte: ein Volkskrieg von den 
Departements selbständig ausgenommen und undurchführbar, wenn diese nicht 
bewiesen, was ihnen seit ihrer großen Niederlage 1793 kein Mensch mehr 
zutraute in „ihrer ländlichen Schläfrigkeit". Welchen nächsten Zweck konnte 
er in den Augen eines pariser Demagogen haben, wenn nicht den, Paris 
zu befreien, das heldenmüthige Volk der Revolutionen von 1830, 1848, 
1870 zu entsetzen, Frankreich mit der Hauptstadt, seinen Kopf, sein Gehirn, 
sein Herz lieber heut als morgen wiederzugeben? Die blinde Einseitigkeit, 
mit der Gambetta dies Ziel verfolgte, hat seinen ganzen Nationalkrieg vereitelt. 
Männer vom Fach wie der Verfasser der „militärischen Gedanken und 
Betrachtungen über den deutsch-französischen Krieg 1870/71“ können sich 
nicht fassen vor Erstaunen über den consequenten Wahnsinn dieses Beginnens. 
Gambetta kennt kein anderes Object des Kriegs als Paris. Die größten 
Festungen des Landes, die historischen Bollwerke seiner Grenzen werden sich 
selber überlassen, schwach besetzte Gegenden, durch welche die unentbehrlichsten 
Verbindungen des Feindes führen, bleiben ungestört in seinem Besitz. In 
Paris bekränzt man die trauernde Statue Straßburgs, während Gambetta 
keine Zeit hat, an die große Armee zu Metz zu denken, die, ohne Hilfe ge- 
lassen, demselben Schicksal entgegenwellkt. Denn im Rechte war doch wohl 
jener amerikanische General, von dem Francisque Sarcey das derbe Wort 
aufbewahrt: Metz ist der Schlüssel der Situation. Von Metz aus muß 
man die Preußen von Paris wegtreiben, denn das beste Mittel, einen Hund 
zum Umdrehen zu zwingen, ist, ihm auf den Schwanz zu treten. Kostbare 
Wochen, während deren selbst eine kleine Armee die Kräfte des Feindes 
theilen, den Belagerern von Metz unmittelbar wie denen von Paris mittelbar 
furchtbaren Abbruch thun konnte, verstrichen gänzlich unbenutzt. Paris ist 
eingeschlossen, Paris muß entsetzt werden um jeden Preis, dieser eine Ge-
	        
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