Mebersicht der Ereignisse des Tahres 1871. 483
langer Zeit kaum mehr befürchtet worden war: es begann die Be-
schießung der Bollwerke von Paris.
Nichts hatte, wie wir durch Sarcey und Laboucheère erfahren, die hei-
teren Pariser mehr belustigt, als daß ihre anfängliche Todesangst vor dem
Bombardement, das sie schon im September erwartet, eine völlige vergeb-
liche gewesen war. Ein schallendes Hohngelächter war ausgebrochen, als
man aus einem aufgefangenen deutschen Zeitungsblatt erfuhr: Graf Bismarck
warte mit der Beschießung nur auf den „rechten psychologischen Moment.“ Dies
Wort gab den Stoff zu zahllosen wohlfeilen Witzen. Die Zuversicht war
so groß, daß noch am 25. December das Journal officiel zu erklären
wagte: Binnen Kurzem werden die Belagerer von den Belagerten belagert wer-
den. Der mit Haue und Spaten geführte Ingenieurkrieg wird bald seine
Früchte tragen, und das Plateau von Avron, unterhalb der detachirten
Forts von Rosny und Noisy, ist dazu bestimmt, durch eine Batterie armirt
für die Cernirungslinie im Osten der Hauptstadt in kürzester Frist höchst
verderblich zu werden. Welch geheimnißvolle Pläne hier immer mögen ge-
brütet worden sein, sie wurden im Keime erstickt durch das vernichtende Feuer
der deutschen Geschütze.
Am 27. Dec. um 7 Uhr Morgens. eröffnete die unterhalb Chelles
zwischen der württembergischen Division und dem sächsischen (XII.) Corps
aufgestellte Batterie von 76 Geschützen, theils 12= theils 24-Pfündern, das
Bombardement des Mont Avron, dessen Besatzung aus tiefster Sicherheit
aufgeschreckt ward. Trotz des Schneegestöbers war die Wirkung so be-
deutend, daß die feindlichen Geschütze nach drei Stunden ihr Feuer einstellten
und die Besatzung des Dorfes Avron schleunigst den Rückzug antrat. Das
Feuer dauerte den ganzen 27. und 28. und die Nacht auf den 29. Dec.
hindurch fort. Unter persönlichem Befehl des Generals Trochu, der auf
die Vorstellungen seines Stabs erwiderte: „ich werde nicht eher weichen, bis
das letzte Geschütz in Sicherheit ist", ward in der Nacht vom 28/29.
die Räumung der Höhe vollzogen, Geschütze, Bagage, Munition auf Karren
gepackt und auf der Straße, die spiegelglatt war wie eine Eisbahn, trotz
des fürchterlichen Feuers glücklich nach Rosny hinuntergebracht. Am Morgen
des 29. besetzten die Sachsen das geräumte Werk und damit hatte kurz vor
Jahresschluß der letzte Act des blutigen Dramas vor Paris begonnnen.
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