Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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                       Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
Schwierigkeit geschaffen. Aber politische Schwierigkeiten würden bestanden 
werden müssen, wenn sonst keine Wahl mehr übrig bleibe, als „sich selber 
aufzugeben.“ Wenn Württemberg sich keine Zukunft seiner eigenen Staats- 
existenz mehr zutrauen zu dürfen glaube, so beweise Das nicht, daß auch für 
Bayern eine solche Zukunft nicht mehr blühe. Bayern könne nur mit Ver- 
leugnung seines historischen Charakters und seiner territorialen Lage sich selber 
der Fähigkeit berauben, den vermittelnden Uebergang zu bilden zwischen einem 
streng centralisirten Kern des deutschen Reiches und den Millionen deutscher 
Stammesverwandten, welche vollständig außerhalb an seinen Grenzen stehen. 
Ueber das als Motiv aufgeführte „Damoklesschwert der Zollvereinskündigung“ 
erlaube er sich ein ganz offenes Wort. „Er besitzt, gestützt auf sein eigenes 
moralisches Gefühl, eine bessere Meinung von dem mächtigen Verbündeten 
Bayerns im jetzigen Kriege, als daß er es für möglich halten könnte, Preußen 
werde wenige Jahre nachher die mit Strömen Blutes begründeten Verdienste 
Bayerns um die preußischen Siege so belohnen, wie Hr. v. Lutz es in drohende 
Aussicht stellt. Er hält es um so mehr für moralisch unmöglich, daß Preußen 
den bezeichneten Weg einschlage, nachdem ein bekanntes Circular des Grafen 
Bismarck schon im Jahre 1867 die Loyalität hervorgehoben hat, womit Preußen 
durch die neuen Verträge thatsächlich die altbekannte „Daumschraube“ aus der 
Hand gegeben habe, wie denn in der That die parlamentarische Verfassung 
des neuen Zollvereins mit dessen Kündbarkeit in greifbarem Widerspruche steht. 
Bei der bereits vollzogenen Ausdehnung des „deutschen Bundes“ auf Südwest- 
deutschland dürfte man es übrigens auf die Eventualität einer Zollvereins- 
kündigung um so ruhiger ankommen lassen. Sollte sie aber dennoch eintreten, 
dann kann Ref. seine Befürchtung nicht verbergen, daß bei der vorausgesetzten 
Gesinnung der Bundesvormacht auch von den jetzt gewährten Bedingungen 
oder Vorbehalten, deren realer Werth zum Theil ohnehin den erheblichsten 
Zweifeln unterliegt, bis Ende 1877 wenig mehr unzerrieben hinterblieben sein 
dürfte. Jedenfalls vermöchte er eine Politik nicht zu begreifen, die, aus Furcht 
vor einer gegen Ende des Jahres 1877 möglicherweise drohenden Gefahr, am 
Ende des Jahres 1870 sich selbst ausgeben wollte.“ Der Bericht wendet sich 
sodann zu dem Verhältniß zwischen der durch die Verträge vorgeschlagenen 
deutschen Verfassung und der früheren Nordbundsverfassung, zu den an der 
nordd. Verfassung (für alle Staaten) vorgenommenen Aenderungen und mißt 
in dieser Hinsicht der Schaffung des diplomatischen Ausschusses wegen des nicht 
activen Characters desselben ebenso wenig Bedeutung bei, wie der jetzt in 
gewissen Fällen erforderlichen Zustimmung des Bundesraths zur Kriegserklärung 
wegen des geringen praktischen Werthes einer solchen Festsetzung. In gerade 
entgegengesetzter Richtung habe dagegen der Art. 7 über die Beschlußfassung 
im Bundesrathe eine schwere Bedeutung dadurch erlangt, daß in die Bestimm- 
ung, wonach die Beschlußfassung mit einfacher Mehrheit zu erfolgen habe, die 
Worte „vorbehaltlich der Bestimmungen in den Art. 5, 37 und 78“ einge- 
schoben worden seien. Denn durch diese drei Artikel (wonach bei Gesetzesvor- 
schlägen über Militärwesen, Marine und gewisse Abgaben, sowie bei der Be- 
schlußfassung über Ausführungsverordnungen im Falle der Meinungsver- 
schiedenheit das Präsidium zu Gunsten des Bestehenden den Ausschlag gibt, 
und wonach Veränderungen der Verfassung als abgelehnt gelten, wenn sie 
14 Stimmen gegen sich haben) würden nach zwei Seiten hin Zustände der 
Nordbundsverfassung herübergenommen, in welchen der Ausfluß des absolu- 
tistischen Geistes und das charakteristische Merkmal des Militärstaates nicht 
zu verkennen sei. Jeden Versuch einer Verfassungsänderung könne Preußen 
mit seinen 17 Stimmen im Bundesrathe vereiteln, wonach selbst die durch 
die Verträge erlangte höhere Garantie gegen Verfassungsänderungen hier als 
ein zweischneidiges Schwert erscheine, und in den wichtigsten Gebieten der Gesetz- 
gebung besitze es das absolute Veto zu Gunsten des status quo. „Referent, 
heißt es dann weiter, stellt bei seiner Beurtheilung der Vorlage absichtlich nicht
	        
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