ilebersicht der Ereignisse des Tahres 1871. 557
und London gewirkt wie ein platzendes Sprenggeschoß. Zur allgemeinen
Ueberraschung war es in Constantinopel anders. Mit einer Gemüthsruhe,
die sein verstorbener College Fuad schwerlich bewahrt hätte, nahm Aali Pascha
die russische Eröffnung entgegen und mit einer Zuversicht, die Nichts beirrte,
erklärte er den Mächten, die Türkei fühle sich stark genug, auf eigenen
Füßen zu stehen und eines papiernen Bollwerks zu entrathen, das schon ein-
mal, zu Gunsten der Donaufürstenthümer, verletzt worden sei, ohne erheb-
lichen Schaden für die hohe Pforte. So blieb ein freundschaftliches Einver-
nehmen gesichert gerade zwischen den beiden Mächten, um deren nächste Lebens-
interessen es sich bei der ganzen Frage handelte. Dem Nachfolger dieses Ministers
aber, dem Großvezier Mehemed Pascha, ist zu wünschen, daß es ihm
gelinge mit ebenso großem Erfolge die Freundschaft mit Rußland zu pflegen,
die Unabhängigkeit von den Westmächten zu behaupten und mit noch größe-
rem das System der Sparsamkeit und der inneren Reform durchzuführen,
das gleichfalls von Aali Pascha begonnen worden ist. Unter den türkischen
Vasallenstaaten machte Rumänien wie gewöhnlich am Meisten von sich
reden. Am 22. März unternahmen zu Bukarest 10,000 Wallachen einen
pöbelhaften Ueberfall auf den Saal Slatineanu, in dem zum Geburtsfest des
Kaisers 120 Deutsche versammelt waren und wurden von diesen unter
Führung des ritterlichen Generalconsuls v. Nadowitz heldenmüthig zurückge-
schlagen. Um seine tiefe Mißbilligung der deutschen Siege auszusprechen, die
ein rumänisches Blatt 1870 einen „Gassenbubenstreich der Vorsehung“ ge-
nannt, blieb diesem Pöbel, der bekanntlich recht vornehme Leute in seiner
Mitte zählt, nichts übrig, als selber einen Gassenbubenstreich großen Styls
zu verüben und dann am eigenen Leibe zu erfahren, was deutsche Hiebe sind.
Die Anfang Juni neugewählte Kammer versuchte einen finanziellen Staats-
streich gegen die Concessionäre und Aktionäre der im Bau begriffenen ru-
mänischen Eisenbahnen, stieß aber dabei auf einen so entschiedenen Einspruch
der auswärtigen Mächte, daß sie ihre Naubpläne aufgeben und zur Unter-
werfung unter die gerechten Ansprüche der Staatsgläubiger sich bequemen mußte.
In den öffentlichen Zuständen des Landes, die der hochherzige Fürst
Carl bereits im December 1870 gegenüber den Höfen Europas als unleid-
lich und unhaltbar bezeichnet, ist eine irgend erhebliche Besserung nicht ein-
getreten. Nach wie vor krankt das Volk der beiden Fürstenthümer an einem
Maß von Freiheit, das es weder entbehren will noch ertragen kann.
Im Königreich Belgien ereignete sich der unerhörte Vorgang, daß
ein Ministerium, das seit anderthalb Jahren die entschiedenste Mehrheit in