Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

558 Kebersicht der Ereignisse des Tahres 1871. 
der Kammer hatte, mitten im ungeschmälerten Machtgenusse zusammenbrach 
vor dem Ausschäumen öffentlicher Entrüstung über schmachvolle Geldgeschäfte 
seiner Partei. Am 1. December ist das clericale Ministerium d'Anethan 
entlassen worden, als der Ruf: „Fort mit den Dieben! Wir wollen ehrliche 
Leute!“ das Stichwort einer Volksbewegung geworden war, die jeden Augen- 
blick in offene Rebellion übergehen konnte. 
Im Juni 1870 war die liberale Partei nach beinahe dreizehnjähriger 
Regierung durch ein Ministerium der Clericalen abgelöst worden, weil ihr 
äußerster linker Flügel bei den Wahlen mit den letzteren gemeinschaftliche 
Sache gemacht hatte. An die Stelle von Frère-Orban trat der Baron 
d'Anethan und stellte ein Programm auf, das nicht bloß bei den Radicalen 
großen Beifall fand: Abschaffung der Steuern auf die nöthigsten Lebensbe- 
dürfnisse, Verminderung der Militärlasten, Erweiterung des Wahlrechts. 
Das Ergebniß war allgemeine Enttäuschung. In Sachen der Steuern und 
des Wahlrechts erschien armseliges Flickwerk an Stelle der verheißenen Re- 
formen, die Minister der Finanzen und der öffentlichen Arbeiten glänzten 
durch Proben wahrhaft scandalöser Unfähigkeit, und im Kriegsministerium 
wurden durch den Krieg zwischen Deutschland und Frankreich statt der Ge- 
danken an Ersparungen Entwürfe kostspieliger Armeereformen lebendig. An 
Ursachen wie Vorwänden der Unzufriedenheit fehlte es darum nicht, aber an 
der strammen Mannszucht der clericalen Kammermehrheit wurden alle An- 
griffe auf das Ministerium zu Schanden, bis aus den Geheimnissen seiner 
Parteiwirthschaft ein Scandal hervorgezogen ward, der das öffentliche Ge- 
wissen nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Das Ministerium hatte einen 
Herrn Dedecker zum Gouverneur von Limburg ernannt. Am 22. Nov. 
ward es darüber durch den ehemaligen Justizminister Bara in offener 
Kammer interpellirt. In einer zweistündigen Rede, die fast nichts als Aus- 
züge aus Proceßacten und Briefen, also lauter authentisches Beweis- 
material enthielt, legte er den schamlos betrügerischen Bankschwindel bloß, 
den Langrand-Dumonceau und seine würdige Sippschaft mit ausdrücklicher 
Unterstützung des Ministeriums getrieben hatte. Selbst der Papst hatte 
„seinem geliebten Sohn“ Langrand einen langen Empfehlungsbrief geschrieben, 
ihn gesegnet, weil er den erhabenen Zweck verfolge, Capital, Handel und 
Industrie zu „christianisiren“, „die katholischen Familien den gierigen Händen 
räuberischer Wucherer zu entreißen.“ Einer der ärgsten Mitschuldigen in 
in diesem nichtswürdigen Handel, dessen Fiasko viele Tausende von Familien 
unglücklich gemacht, während die Urheber Millionen gewonnen hatten, war
	        
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