Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

MUebersicht der Ereignisse des Tahres 1871. 559 
Dedecker gewesen und für eben diese Verdienste hatte ihn das Ministerium zum 
Gouverneur von Limburg erhoben. Der Eindruck dieser Anklage war ge- 
waltig, niederschmetternd für die Einen, tief aufregend für die Andern. 
Dichte Volksmassen umwogten Tag und Nacht den Palast der Nation und 
riefen: „Nieder mit dem Ministerium! Fort mit den Dieben! Weg mit der 
Calotte!“ Die Aufregung wuchs im bedrohlichsten Maße, die Demission 
Dedeckers beschwichtigte sie nicht, die Entfaltung militärischer Streitkräfte 
schüchterte sie nicht ein. Das clericale Ministerium, moralisch ins Herz ge- 
troffen, klammerte sich fest an die Mehrheit in der Kammer, an die Hoff- 
nung, mit Gewalt des Sturmes Herr zu werden, während die Städte fast 
des ganzen Landes dem Beispiel sich anschlossen, das die Bevölkerung zu 
Brüssel gegeben hatte. Es schien zum Aeußersten kommen zu müssen, als 
der König am 1. December den Ministern ihr Portefeuilles „zurückforderte“, 
d. h. ihnen ungebeten den Abschied gab, um nicht von der Schande der 
Partei mit hinabgerissen zu werden. Bei dieser Botschaft die das Volk mit 
Enthusiasmus begrüßte, schrie Einer der Clericalen: „Das Ministerium 
zieht sich nicht zurück, es weicht nur der Emeute.“ Das war richtig. Nur 
eine bestimmte Auswahl von Personen unterwarf sich einer unerbittlichen 
Nothwendigkeit. Der Partei blieb das Nuder des Staats. Das neue Mi- 
nisterium de Theux, Thonissen u. s. w. war so clerical wie sein Vorgänger, 
dem die Mehrheit die Zusicherung ihres ungeminderten Vertrauens nachsandte. 
Weniger geräuschvoll, aber ähnlich unfruchtbar an sachlich bedeutenden 
Entscheidungen verlief das Jahr im Königreich Holland. Das neue Mi- 
nisterium, das am 4. Januar unter Vorsitz Thorbeckes ins Amt trat, 
hatte sich die Lösung zweier Lebensfragen zur Aufgabe gestellt: die neue Or- 
ganisation des Heercs und die der Colonien, und in beiden Richtungen wur- 
den seine Vorschläge von den Kammern verworfen. 
Im Königreich Griechenland ist es beim Alten geblieben. In 
Athen beständiger Ministerwechsel, außerhalb Athens behagliche Fortdauer 
des nationalen Straßenraubs: das sind nach wie vor die berechtigten Eigen- 
thümlichkeiten des öffentlichen Lebens in Hellas. 
Auf die inneren Verhältnisse der Vereinigten Staaten von Nord- 
amerika wird Europa aufmerksamer von Jahr zu Jahr. Die Nachrichten 
aber, die davon herüberdringen, sind schlechterdings nicht geeignet, die Be- 
wunderer ihrer Staatsform zu begeistern. In den Südstaaten herrschte 
ein Zustand des Faustrechts und der gesinnungstüchtigen Mordbrennerei, 
gegen den selbst der Fenierunfug in Irland wie ein harmloses Idyll er-
	        
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