Uebersicht der Ereignisse des Lahres 1871. 561
Dinge möglich waren, gab unser Landsmann Friedrich Kapp, der lange
Zeit in New-York als Advokat gelebt hat, in den Preuß. Jahrbüchern die
beste Auskunft: Das eigentliche Uebel, sagt Friedrich Kapp,
nachdem er den Unfug in New-York geschildert, liegt in der Ueber-
tragung und Anwendung des allgemeinen Stimmrechtes auf
die städtische Verwaltung, in der Ausdehnung der politischen,
der Staatsrechte auf die communalen Angelegenheiten. Ur-
sprünglich war die Ausübung der communalen Rechte in den amerikanischen
Städten ebenso wie in den englischen von bestimmten Bedingungen abhängig
gemacht, als da sind: dauernder Hausstand, Beitrag zu den städtischen Lasten,
Theilnahme an der Geschworenenpflicht und an den städtischen Aemtern und
Diensten. Die Stadt war eine Corporation, und über Pflasterung, Be-
leuchtung und Reinigung der Straßen, über Gesundheitspolizei u. s. w.
hatten nur diejenigen mitzureden, welche für alle diese Zwecke des Gemein-
wesens mit bezahlten. Diese Auffassung erhielt sich auch nach der Los-
reißung von England und Gründung der Verfassung von 1787. Erst im
Jahre 1826 schaffte man diese Beschränkung ab und räumte jedem 21jäh-
rigen männlichen Weißen das Stimmrecht ein. Ein Gesetz von 1833 ver-
fügte dann die Wahl des Mayors der Stadt New-York direct durch das Volk,
während er bis dahin durch die Stadtverordneten alljährlich neu ernannt war.
Im Laufe der Jahre wurden fast alle städtischen Aemter auf die Volkswahl
gestellt und die noch heute geltende Verfassung von 1846 setzte diesem Sy-
steme die Krone auf, indem sie sogar die Wahl der Richter durch das Volk
verfügte. Die verderblichen Folgen der neuen Gesetzgebung machten sich
nicht sogleich fühlbar. In den 40er Jahren galt es noch in New-York als
Ehre, zu den Stadtverordneten gewählt zu werden; seitdem aber wurde der
solide Bürgerstand mehr und mehr aus der Verwaltung zurückgedrängt und
die Väter der Stadt recrutirten sich aus Schnapswirthen und demagogischen
Bummlern. Bis in die 50er Jahre hatten ehrenwerthe Kaufleute die höchste
Ehrenstelle des Bürgermeisters bekleidet, dann aber kamen bankerotte Schwindler,
welche für ihre Wahl als Mayors bei den Wahlen so viel Geld aufwandten,
daß sie, schon um zu ihren Unkosten zu kommen, ihr Amt zu Unterschleif
und Erpressung benutzen mußten. Zu derselben Zeit tauchten in New-York
auch die ersten käuflichen Richter auf. Mächtige Eisenbahngesellschaften konnten
sich rühmen, daß sie ihre eigenen Richter im Solde hätten. Es gab im
Jahre 1870 in der Stadt nur 71,000 eingeborene Stimmgeber, dagegen
113,000 fremdgeborene. Unter den letzteren lieferten die Irländer das
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