Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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                           Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
Interesse eng verbundenen Staaten, genügen wird, um jede ihnen mißliebige 
Verfassungsänderung auszuschließen; dagegen beklagen wir es, daß die Institution 
eines verantwortlichen Bundesministeriums in die Verfassung nicht eingeführt 
wurde, und daß Art. 62 derselben seine bisherige bedenkliche Fassung behalten 
hat. Wir geben uns aber der Hoffnung hin, daß es den durch die liberalen 
Elemente des Südens verstärkten freisinnigen Parteien im Reichstag in nicht 
zu ferner Zeit gelingen werde, die in den beiden angeregten Richtungen er- 
forderlichen Aenderungen noch durchzusetzen. An Anhaltspunkten dazu fehlt 
es umsoweniger, als die Nothwendigkeit eines verantwortlichen Bundesmini- 
steriums sich von selbst ergeben wird, wenn einst der Mann, welcher gegen- 
wärtig die Stelle des Bundeskanzlers versieht, die Last der Geschäfte in diesem 
Umfang nicht mehr zu tragen vermag, und als man sich schon bei der Her- 
stellung des Bundesbudgets für das Jahr 1872 wird überzeugen müssen, daß 
die gegenwärtige Fassung des Art. 62 einer Aenderung bedürfe. Anlangend 
die Bayern bewilligten Sonderrechte entsteht zunächst die Frage: ob nicht in 
Beziehung auf die Justizgesetzgebung von Bayern ein Vorbehalt hätte ge- 
macht werden sollen. Die Sache hat aber, wie in dem Vortrage, mit welchem 
der Hr. Staatsminister der Justiz die Vorlage des Vertrags in der Kammer 
begleitet hat, richtig hervorgehoben worden, zwei Seiten. Während nämlich 
auf der einen Seite geltend gemacht werden kann, daß die Justizgesetzgebung, 
wenigstens in dem Umfange wie sie für den Bund vindicirt wird, nicht zu den 
wesentlichen Aufgaben eines Bundesstaats gehöre, daß sie auch in Nordamerika 
und in der Schweiz in diesem Umfange nicht Bundessache sei, und daß die 
Fäden der Gesetzgebung zu vielfach verschlungen sind, als daß nicht aus der 
weitgehenden Competenz des Bundes auf diesem Feld Inconvenienzen bei der 
Ausübung des den Einzelstaaten noch verbleibenden Gesetzgebungsrechts zu 
besorgen sein sollten, ist auf der andern Seite nicht minder wahr, daß das 
deutsche Volk gerade auf die Einheit des Rechtslebens einen vorzüglichen Werth 
legt, und daß die Kräfte, welche ein Staat wie Bayern für die Legislation 
zu verwenden hat, naturgemäß die in der ganzen Nation für diesen Zweck 
vorhandenen nicht aufwiegen. Welche dieser Erwägungen die wichtigere sei, 
darüber gehen die Meinungen auseinander, aber wer der ersteren Rücksicht 
das größere Gewicht beilegt, kann sich dabei beruhigen, daß den von ihm be- 
fürchteten Nachtheilen doch auch wesentliche Vortheile gegenüber stehen. Jeden- 
falls wäre es indeß, wenn einmal das Obligationenrecht und der Civilproceß 
zur Competenz des Bundes gezogen werden sollen, besser — und würde zu 
weniger Schwierigkeiten in der Durchführung Anlaß geben — das gesammte 
Civilrecht der Bundesgesetzgebung zuzuweisen. Daß die Bestimmungen über 
die Presse und das Vereinswesen an den Bund überlassen wurden, ist nicht 
unbedenklich, wir verkennen aber nicht, daß es sich hier um Gegenstände 
handelt, welche an sich zur Regelung von Bundes wegen sich eignen, und 
wenn man einmal einem Bundesstaat angehören will, muß man auch in die 
Institutionen desselben, hier insbesondere in den deutschen Reichstag, das Ver- 
trauen haben, daß zu Gesetzentwürfen, welche eine illiberale Richtung verfolgen, 
die Zustimmung der gesetzgebenden Factoren nicht zu erlangen sein werde. 
Im übrigen finden wir, daß Bayern nicht zu wenig, sondern zu viel Vor- 
behalte für sich gemacht hat. Wir bedauern insbesondere lebhaft den Vor- 
behalt wegen der Heimaths= und Niederlassungsverhältnisse, der nicht einmal 
das deutsche Reichsbürgerthum zu einer vollen Wahrheit werden läßt. Wir 
hätten es vollkommen gerechtfertigt gefunden, wenn Bayern das norddeutsche 
Gesetz über den Unterstützungswohnsitz nicht ohne weiteres angenommen, sondern 
sich eine Revision desselben unter seiner Mitwirkung ausbedungen hätte, aber 
diesen Gegenstand zu einem Reservat für alle Zeiten zu machen war überall 
kein Grund vorhanden. Indeß ist der erwähnte Vorbehalt ein zweischneidiges 
Schwert, denn die Rechte, welche die Angehörigen der Einzelstaaten in Bayern 
nicht haben, stehen auch den bayrischen Staatsbürgern im übrigen Deutschland
	        
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