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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
Interesse eng verbundenen Staaten, genügen wird, um jede ihnen mißliebige
Verfassungsänderung auszuschließen; dagegen beklagen wir es, daß die Institution
eines verantwortlichen Bundesministeriums in die Verfassung nicht eingeführt
wurde, und daß Art. 62 derselben seine bisherige bedenkliche Fassung behalten
hat. Wir geben uns aber der Hoffnung hin, daß es den durch die liberalen
Elemente des Südens verstärkten freisinnigen Parteien im Reichstag in nicht
zu ferner Zeit gelingen werde, die in den beiden angeregten Richtungen er-
forderlichen Aenderungen noch durchzusetzen. An Anhaltspunkten dazu fehlt
es umsoweniger, als die Nothwendigkeit eines verantwortlichen Bundesmini-
steriums sich von selbst ergeben wird, wenn einst der Mann, welcher gegen-
wärtig die Stelle des Bundeskanzlers versieht, die Last der Geschäfte in diesem
Umfang nicht mehr zu tragen vermag, und als man sich schon bei der Her-
stellung des Bundesbudgets für das Jahr 1872 wird überzeugen müssen, daß
die gegenwärtige Fassung des Art. 62 einer Aenderung bedürfe. Anlangend
die Bayern bewilligten Sonderrechte entsteht zunächst die Frage: ob nicht in
Beziehung auf die Justizgesetzgebung von Bayern ein Vorbehalt hätte ge-
macht werden sollen. Die Sache hat aber, wie in dem Vortrage, mit welchem
der Hr. Staatsminister der Justiz die Vorlage des Vertrags in der Kammer
begleitet hat, richtig hervorgehoben worden, zwei Seiten. Während nämlich
auf der einen Seite geltend gemacht werden kann, daß die Justizgesetzgebung,
wenigstens in dem Umfange wie sie für den Bund vindicirt wird, nicht zu den
wesentlichen Aufgaben eines Bundesstaats gehöre, daß sie auch in Nordamerika
und in der Schweiz in diesem Umfange nicht Bundessache sei, und daß die
Fäden der Gesetzgebung zu vielfach verschlungen sind, als daß nicht aus der
weitgehenden Competenz des Bundes auf diesem Feld Inconvenienzen bei der
Ausübung des den Einzelstaaten noch verbleibenden Gesetzgebungsrechts zu
besorgen sein sollten, ist auf der andern Seite nicht minder wahr, daß das
deutsche Volk gerade auf die Einheit des Rechtslebens einen vorzüglichen Werth
legt, und daß die Kräfte, welche ein Staat wie Bayern für die Legislation
zu verwenden hat, naturgemäß die in der ganzen Nation für diesen Zweck
vorhandenen nicht aufwiegen. Welche dieser Erwägungen die wichtigere sei,
darüber gehen die Meinungen auseinander, aber wer der ersteren Rücksicht
das größere Gewicht beilegt, kann sich dabei beruhigen, daß den von ihm be-
fürchteten Nachtheilen doch auch wesentliche Vortheile gegenüber stehen. Jeden-
falls wäre es indeß, wenn einmal das Obligationenrecht und der Civilproceß
zur Competenz des Bundes gezogen werden sollen, besser — und würde zu
weniger Schwierigkeiten in der Durchführung Anlaß geben — das gesammte
Civilrecht der Bundesgesetzgebung zuzuweisen. Daß die Bestimmungen über
die Presse und das Vereinswesen an den Bund überlassen wurden, ist nicht
unbedenklich, wir verkennen aber nicht, daß es sich hier um Gegenstände
handelt, welche an sich zur Regelung von Bundes wegen sich eignen, und
wenn man einmal einem Bundesstaat angehören will, muß man auch in die
Institutionen desselben, hier insbesondere in den deutschen Reichstag, das Ver-
trauen haben, daß zu Gesetzentwürfen, welche eine illiberale Richtung verfolgen,
die Zustimmung der gesetzgebenden Factoren nicht zu erlangen sein werde.
Im übrigen finden wir, daß Bayern nicht zu wenig, sondern zu viel Vor-
behalte für sich gemacht hat. Wir bedauern insbesondere lebhaft den Vor-
behalt wegen der Heimaths= und Niederlassungsverhältnisse, der nicht einmal
das deutsche Reichsbürgerthum zu einer vollen Wahrheit werden läßt. Wir
hätten es vollkommen gerechtfertigt gefunden, wenn Bayern das norddeutsche
Gesetz über den Unterstützungswohnsitz nicht ohne weiteres angenommen, sondern
sich eine Revision desselben unter seiner Mitwirkung ausbedungen hätte, aber
diesen Gegenstand zu einem Reservat für alle Zeiten zu machen war überall
kein Grund vorhanden. Indeß ist der erwähnte Vorbehalt ein zweischneidiges
Schwert, denn die Rechte, welche die Angehörigen der Einzelstaaten in Bayern
nicht haben, stehen auch den bayrischen Staatsbürgern im übrigen Deutschland