Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                     Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                            53 
nicht zu. Wenn wir nicht sehr irren, wird dieses Ausnahmsverhältniß unserm 
Lande bald so viele Verlegenheiten bereiten, daß es darauf gern freiwillig 
verzichten wird. Die Bayern in Beziehung auf die auswärtigen Angelegen- 
heiten bewilligten Prärogative betrachten wir als Ehrenrechte, jedenfalls nicht 
als solche sachliche Zugeständnisse, welche für die Leitung der deutschen Politik 
nachtheilig werden könnten, finden daher nichts dagegen zu erinnern, obschon 
wir nicht verkennen, daß eine glückliche Leitung gerade dieser Branche vor- 
aussetzt, daß dieselbe in eine Hand gegeben sei. Daß in Bayern die Be- 
steuerung des inländischen Branntweins und Biers der Landesgesetzgebung 
vorbehalten bleibt, ist ein zur Zeit durch die Verhältnisse gerechtfertigtes 
Reservat, auch wollen wir den Vorbehalt der selbständigen Verwaltung des 
bayrischen Post= und Telegraphenwesens, da sich die bayrische Regierung dabei 
im wesentlichen nach den betreffenden Bundesgesetzen zu richten hat, nicht an- 
fechten; warum aber Bayern von der so nothwendigen Einheit der Gesetzgebung 
auf dem Gebiete des Eisenbahnwesens fast gänzlich emancipirt sein soll, ver- 
mögen wir wieder nicht abzusehen. Bei dem Militärwesen finden wir es den 
Verhältnissen angemessen, daß Bayern die selbständige Verwaltung seiner Armee 
im Frieden gelassen wurde, und wir theilen auch nicht die Befürchtung, als 
könnte daraus, daß die Mobilisirung der bayrischen Armee auf Veranlassung 
des Bundesfeldherrn durch Se. Maj. den König von Bayern erfolgt, eine 
Gefahr für den Bund entstehen; dagegen bedauern wir lebhaft die Bestimmung 
über das Militärbudget in III. § 5 II des Vertrags. Nach unserer Ansicht 
wäre es besser, auch im specifisch bayrischen Interesse, wenn die Specialetats 
des Bundesmilitärbudgets für Bayern maßgebend wären und die bei Durch- 
führung desselben sich ergebenden Ersparungen der Bundescasse zu gute kämen, 
wogegen dann diese auch die durch unvorhergesehene Fälle oder Preis- 
schwankungen hervorgerufenen Mehrausgaben zu tragen hätte. Es würde dieß 
einerseits mehr Sicherheit bringen, andrerseits aber den Reibungen zwischen 
dem Reichstag und dem bayrischen Landtag vorbeugen, die bei dem jetzt be- 
liebten System nur zu leicht hervortreten können. Was wir aber auch an 
dem vorliegenden Vertrag so manches auszusetzen haben, so können uns diese 
Ausstellungen doch nicht zur Ablehnung des Vertrags bestimmen. Läßt der- 
selbe auch noch vieles zu wünschen übrig, welches zu erreichen später die Auf- 
gabe des Reichstags und zum Theil auch des bayrischen Landtags sein wird, 
so ist doch nicht zu verkennen, daß durch denselben für die nationale Sache 
großes gewonnen wird. Daß der casus foederis mit seinen Gefahren für die 
Sicherheit des jedesmaligen Zusammengehens, wenn Deutschlands Grenzen 
oder Deutschlands Ehre und Interessen bedroht sind, aus der Welt geschafft 
wird; daß an die Stelle des kündbaren Zollvereins ein festgegründetes deutsches 
Reich tritt, in welchem alle Zollvereinsstaaten vereinigt sind; daß die deutschen 
Staaten und das deutsche Volk im Bundesrath und Reichstag unter dem von 
den deutschen Fürsten in lange nicht dagewesener Einigkeit selbst gesetzten Kaiser 
zu einem Achtung gebietenden Organismus sich verbunden sehen; daß das 
Reich als politische Einheit durch deutsche Gesandte und deutsche Consuln im 
Staatenkreise künftig vertreten sein wird; daß wir eine deutsche Marine und 
ein deutsches Heer haben werden, wie wir bisher ein gemeinsames Zoll= und 
Handelswesen schon gehabt haben; daß die Verkehrsanstalten und so viele zur 
Unificirung geeignete Zweige der Gesetzgebung künftig räumlich wie dem Stoffe 
nach in weit ausgedehnterm Maß als bisher gemeinsam sein werden — das 
alles zusammengenommen ist, zumal es auch der so geschaffenen Einheit an 
der Fähigkeit der Fortbildung nicht fehlt, ein so bedeutender Fortschritt, daß 
wir es gegen das Vaterland nicht verantworten zu können glauben würden, 
wenn wir das Gute was uns geboten wird, um der Schlacken willen die noch 
damit verquickt sind, zurückweisen wollten. Wir dürfen an den vorliegenden 
Vertrag die von uns früher als Grundlage einer zu pflegenden Unterhandlung 
aufgestellten Forderungen in ihrem ganzen Umfang um so minder als Maßstab
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.