Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

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                        Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
beantwortet werden. Erstens: Ist es wahr, daß die drei Aussprüche Christi 
über Petrus von Anfang an in der ganzen Kirche und durch alle Jahr- 
hunderte hindurch in dem Sinne, welcher ihnen jetzt untergelegt wird, nämlich 
von einer allen Päpsten damit verliehenen Unfehlbarkeit und schrankenlosen 
Universalherrschaft, verstanden worden sind! Zweitens: Ist es wahr, daß die 
kirchliche Ueberlieferung aller Zeiten in den Schriften der Väter und den That- 
sachen der Geschichte die allgemeine Anerkennung dieses päpstlichen Doppelrechtes 
aufweist? Wenn diese Fragen mit Nein beantwortet werden müssen, so darf 
nicht etwa, wie Herr v. Kübel und andere thun, an den Beistand des heil. 
Geistes, der dem Papste zugesichert sei, und an den ihm deßhalb gebührenden 
Glaubensgehorsam appellirt werden; denn ob er wirklich dieses Beistandes sich 
erfreue, das soll eben erst geschichtlich nachgewiesen werden. Wo ist dieß bis 
jetzt geschehen? Nicht auf dem Concil, denn dort hat man, wie Cardoni's 
Hauptschrift beweist, selbst Fälschungen nicht gescheut und eine völlig unwahre 
Darstellung der Tradition mit Verschweigung der schlagendsten Thatsachen 
und Gegenzeugnisse gegeben, und dieß ist es eben, was zu beweisen ich mich 
erbiete. Und hier bitte ich Ew. Excellenz erwägen zu wollen, daß die Lehre, 
zu der wir uns jetzt bekennen sollen, nach der Natur der Sache, nach der 
eigenen Erklärung des Papstes, nach dem Geständnisse aller Infallibilisten, 
einen oder vielmehr den Fundamental-Artikel des Glaubens bildet; daß es 
sich direct um die regula fidei, um die Norm handelt, welche über das, 
was zu glauben, oder nicht zu glauben sei, entscheiden muß. Künftig 
würde jeder katholische Christ auf die Frage, warum er dieß oder jenes 
glaube, nur antworten können und dürfen: „Ich glaube es, oder ver- 
werfe es, weil der unfehlbare Papst es zu glauben oder zu verwerfen geboten 
hat.“ Dieses oberste Glaubensprincip darf, wie es nothwendig sonnenklar 
in der heil. Schrift verzeichnet sein müßte, niemals in der Kirche verdunkelt 
gewesen sein; es muß in jeder Zeit, bei jedem Volke wie ein hellleuchtendes 
Gestirn die ganze Kirche beherrscht haben, muß an die Spitze alles Unterrichtes 
gestellt worden sein; und wir harren Alle noch des Aufschlusses: wie es denn 
zu erklären sei, daß erst nach 1830 Jahren die Kirche auf den Gedanken ge- 
kommen sei, eine Lehre, welche der Papst in dem an Ew. Excellenz gerichteten 
Schreiben vom 28. Oktober ipsum fundamentale principium catholicae fidei 
ac doctrinac nennt, zum Glaubensartikel zu machen. Wie ist es denn nur 
möglich gewesen, daß die Päpste jahrhundertelang ganzen Ländern, ganzen 
theologischen Schulen die Leugnung dieses fundamentalen Glaubenssatzes nach- 
gesehen haben: Und war denn da eine Einheit der Kirche, wo man im Fun- 
dament des Glaubens selbst geschieden war: Und — darf ich es noch bei- 
fügen? — wie ist es denn gekommen, daß Ew. Exeellenz selber so lange und 
so beharrlich gegen die Verkündigung dieses Dogma's sich gesträubt haben? 
— Weil es nicht opportun sei, sagen Sie. Aber kann es denn jemals „in- 
opportun" sein, den Gläubigen den Schlüssel zum ganzen Glaubensgebäude 
zu geben, den Fundamentalartikel, von welchem alle anderen abhängen, zu 
verkünden? Da stehen wir ja Alle schwindelnd vor einem Abgrunde, der sich 
am 18. Juli vor uns aufgethan hat. 
         „Wer die ungeheure Tragweite der jüngsten Beschlüsse ermessen will, dem 
ist dringend zu empfehlen, daß er immer das dritte Kapitel des Concildecretes 
mit dem vierten gehörig zusammennehme, und sich vergegenwärtige, welch ein 
System der vollendetsten Universalherrschaft und geistlichen Dictatur uns hier 
entgegentritt. Es ist die ganze Gewaltfülle über die gesammte Kirche, wie 
über jeden Einzelmenschen, wie sie die Päpste seit Gregor VII. in Anspruch 
genommen, wie sie in den zahlreichen Bullen seit der Bulle Unam Sanctam 
ausgesprochen ist, welche fortan von jedem Katholiken geglaubt und im Leben 
anerkannt werden soll. Diese Gewalt ist schrankenlos, unberechenbar, sie kann 
Überall eingreifen, wo, wie Innocenz III. sagt, Sünde ist, kann Jeden strafen, 
duldet keine Appellation und ist souveräne Willkür, denn der Papst trägt nach
	        
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