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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
beantwortet werden. Erstens: Ist es wahr, daß die drei Aussprüche Christi
über Petrus von Anfang an in der ganzen Kirche und durch alle Jahr-
hunderte hindurch in dem Sinne, welcher ihnen jetzt untergelegt wird, nämlich
von einer allen Päpsten damit verliehenen Unfehlbarkeit und schrankenlosen
Universalherrschaft, verstanden worden sind! Zweitens: Ist es wahr, daß die
kirchliche Ueberlieferung aller Zeiten in den Schriften der Väter und den That-
sachen der Geschichte die allgemeine Anerkennung dieses päpstlichen Doppelrechtes
aufweist? Wenn diese Fragen mit Nein beantwortet werden müssen, so darf
nicht etwa, wie Herr v. Kübel und andere thun, an den Beistand des heil.
Geistes, der dem Papste zugesichert sei, und an den ihm deßhalb gebührenden
Glaubensgehorsam appellirt werden; denn ob er wirklich dieses Beistandes sich
erfreue, das soll eben erst geschichtlich nachgewiesen werden. Wo ist dieß bis
jetzt geschehen? Nicht auf dem Concil, denn dort hat man, wie Cardoni's
Hauptschrift beweist, selbst Fälschungen nicht gescheut und eine völlig unwahre
Darstellung der Tradition mit Verschweigung der schlagendsten Thatsachen
und Gegenzeugnisse gegeben, und dieß ist es eben, was zu beweisen ich mich
erbiete. Und hier bitte ich Ew. Excellenz erwägen zu wollen, daß die Lehre,
zu der wir uns jetzt bekennen sollen, nach der Natur der Sache, nach der
eigenen Erklärung des Papstes, nach dem Geständnisse aller Infallibilisten,
einen oder vielmehr den Fundamental-Artikel des Glaubens bildet; daß es
sich direct um die regula fidei, um die Norm handelt, welche über das,
was zu glauben, oder nicht zu glauben sei, entscheiden muß. Künftig
würde jeder katholische Christ auf die Frage, warum er dieß oder jenes
glaube, nur antworten können und dürfen: „Ich glaube es, oder ver-
werfe es, weil der unfehlbare Papst es zu glauben oder zu verwerfen geboten
hat.“ Dieses oberste Glaubensprincip darf, wie es nothwendig sonnenklar
in der heil. Schrift verzeichnet sein müßte, niemals in der Kirche verdunkelt
gewesen sein; es muß in jeder Zeit, bei jedem Volke wie ein hellleuchtendes
Gestirn die ganze Kirche beherrscht haben, muß an die Spitze alles Unterrichtes
gestellt worden sein; und wir harren Alle noch des Aufschlusses: wie es denn
zu erklären sei, daß erst nach 1830 Jahren die Kirche auf den Gedanken ge-
kommen sei, eine Lehre, welche der Papst in dem an Ew. Excellenz gerichteten
Schreiben vom 28. Oktober ipsum fundamentale principium catholicae fidei
ac doctrinac nennt, zum Glaubensartikel zu machen. Wie ist es denn nur
möglich gewesen, daß die Päpste jahrhundertelang ganzen Ländern, ganzen
theologischen Schulen die Leugnung dieses fundamentalen Glaubenssatzes nach-
gesehen haben: Und war denn da eine Einheit der Kirche, wo man im Fun-
dament des Glaubens selbst geschieden war: Und — darf ich es noch bei-
fügen? — wie ist es denn gekommen, daß Ew. Exeellenz selber so lange und
so beharrlich gegen die Verkündigung dieses Dogma's sich gesträubt haben?
— Weil es nicht opportun sei, sagen Sie. Aber kann es denn jemals „in-
opportun" sein, den Gläubigen den Schlüssel zum ganzen Glaubensgebäude
zu geben, den Fundamentalartikel, von welchem alle anderen abhängen, zu
verkünden? Da stehen wir ja Alle schwindelnd vor einem Abgrunde, der sich
am 18. Juli vor uns aufgethan hat.
„Wer die ungeheure Tragweite der jüngsten Beschlüsse ermessen will, dem
ist dringend zu empfehlen, daß er immer das dritte Kapitel des Concildecretes
mit dem vierten gehörig zusammennehme, und sich vergegenwärtige, welch ein
System der vollendetsten Universalherrschaft und geistlichen Dictatur uns hier
entgegentritt. Es ist die ganze Gewaltfülle über die gesammte Kirche, wie
über jeden Einzelmenschen, wie sie die Päpste seit Gregor VII. in Anspruch
genommen, wie sie in den zahlreichen Bullen seit der Bulle Unam Sanctam
ausgesprochen ist, welche fortan von jedem Katholiken geglaubt und im Leben
anerkannt werden soll. Diese Gewalt ist schrankenlos, unberechenbar, sie kann
Überall eingreifen, wo, wie Innocenz III. sagt, Sünde ist, kann Jeden strafen,
duldet keine Appellation und ist souveräne Willkür, denn der Papst trägt nach