Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

88 
                          Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
lebenden zu erfüllen. Auf festeren Grundlagen als je ist das deutsche Reich 
wieder aufgerichtet, und die Nation ist entschlossen, es zu erhalten in der 
Fülle seiner Kraft, es fortzuentwickeln auf den Bahnen der Freiheit und des 
Friedens. Wollen Ew. Majestät den Dank entgegennehmen, welchen die ge- 
sammte Natien dem erhabenen Feldherrn, dem Heldenmuth und der Hingebung 
des deutschen Heeres schuldet, den Dank für die gewaltigen Thaten, denen es 
beschieden war, nicht allein die gegenwärtige Gefahr abzuwenden, sondern auch 
die Zukunft vor der Wiederkehr gleicher Gefahren zu schützen. Denn mehr 
noch als die erlittenen Niederlagen wird die jetzt starke Befestigung unserer 
Grenzen den Nachbarn zur Vorsicht mäßigen. Die schweren Drangsale, welche 
über die Noth des Krieges hinaus Frankreich heute erduldet, bekräftigen die 
oft, doch niemals straflos verkannte Wahrheit, daß in dem Verbande der 
civilisirten Völker selbst die mächtigste Nation nur in der weisen Beschränkung 
auf die volle Entfaltung ihres inneren Wesens vor schweren Verwirrungen ge- 
sichert bleibt. Auch Deutschland hat einst, indem die Herrscher den Ueber- 
lieferungen eines fremdländischen Ursprunges folgten, durch Einmischung 
in das Leben anderer Nationen die Keime des Verfalles empfangen. Das neue 
Reich ist dem selbsteigenen Geiste des Volkes entsprungen, welches, nur zur 
Abwehr gerüstet, unwandelbar den Werken des Friedens ergeben ist. In dem 
Verkehr mit fremden Völkern fordert Deutschland für seine Bürger nicht mehr, 
als die Achtung, welche Recht und Sitte gewährleisten, und gönnt, unbeirrt 
durch Abneigung oder Zuneigung, jeder Nation, die Wege zur 
Einheit, jedem Staate, die beste Form seiner Gestaltung nach 
eigener Weise zu finden. Die Tage der Einmischung in das 
innere Leben anderer Völker werden, so hoffen wir, unter keinem 
Vorwande und in keiner Form wiederkehren. Ew. Majestät folgen 
wir mit freudiger Zustimmung zu den dringenden Aufgaben, welche der be- 
endete Krieg, und zu den dauernden Aufgaben, welche die Verfassurg des Reiches 
uns stellt. Alle unsere Kräfte werden zuerst dem hohen Berufe gewidmet sein, 
die Wunden zu heilen, welche der Krieg geschlagen hat, und die Pflicht des 
Vaterlandes zu erfüllen gegen Diejenigen, welche Leben oder Gesundheit für 
seinen Schutz geopfert haben. Allen Vorlagen werden wir unsere aufmerksame 
Mitthätigkeit zuwenden. Es überrascht nicht, daß der Krieg die Vorarbeiten 
der regelmäßigen Gesetzgebung verzögert hat, und vermindert nicht unsere 
Hoffnung, daß die Gesetzgebung des Reiches sich eben so fruchtbar erweisen wird, 
wie die Gesetzgebung des nordd. Bundes. Die umfangreiche Einführung nordd. 
Gesetze in den Südstaagten erhöht unser Vertrauen zu dem harmonischen Zu- 
sammenwirken aller Glieder des Reiches, auch der Organe, welche berufen sind, 
die einzelnen Staaten zu vertreten. Mit Genugthuung vernehmen wir, daß 
aus der Kriegsentschädigung zunächst das Bedürfniß des Reiches, sodann die 
berechtigten Ansprüche seiner Mitglieder befriedigt werden sollen. Für das 
Wohl der für Deutschland zurückerworbenen Gebiete ist das deutsche Volk mit 
den wärmsten Gefühlen brüderlicher Theilnahme erfüllt. Die schönsten Denk- 
mäler deutscher Cultur und deutschen Volkslebens erinnern an deutsche Ver- 
gangenheit in Elsaß und Lothringen. Lange Entfremdung hat manche Spuren 
eines reichen Jahrtausends deutscher Geschichte verwischt, doch unsere Sprache 
und Sitte sind der Mehrzahl des Volkes noch unverloren. Mögen Gesetz- 
gebung und Verwaltung zusammenwirken, an diese Beziehungen überall anzu- 
knüpfen, das Wiedererwachen des deutschen Geistes zu unterstützen und in der 
Versöhnung der Gemüther die Bande zu stärken, welche die herrlichen Provinzen 
mit dem übrigen Deutschland wieder vereinigen. In diesem Geiste werden 
wir uns den Arbeiten widmen, welche die Grundlagen der neuen Ordnung 
schaffen oder vorbereiten sollen. Kaiserliche Majestät! Der Zufriedenheit 
Deutschlands, der Sicherheit Europa's hat die Einheit des deutschen Reiches 
gefehlt. Jetzt ist die Einheit errungen und das Reich unter dem Schutze seines 
Kaisers, unter der Herrschaft seiner Verfassung und der Gesetze sicher gestellt.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.