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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
lebenden zu erfüllen. Auf festeren Grundlagen als je ist das deutsche Reich
wieder aufgerichtet, und die Nation ist entschlossen, es zu erhalten in der
Fülle seiner Kraft, es fortzuentwickeln auf den Bahnen der Freiheit und des
Friedens. Wollen Ew. Majestät den Dank entgegennehmen, welchen die ge-
sammte Natien dem erhabenen Feldherrn, dem Heldenmuth und der Hingebung
des deutschen Heeres schuldet, den Dank für die gewaltigen Thaten, denen es
beschieden war, nicht allein die gegenwärtige Gefahr abzuwenden, sondern auch
die Zukunft vor der Wiederkehr gleicher Gefahren zu schützen. Denn mehr
noch als die erlittenen Niederlagen wird die jetzt starke Befestigung unserer
Grenzen den Nachbarn zur Vorsicht mäßigen. Die schweren Drangsale, welche
über die Noth des Krieges hinaus Frankreich heute erduldet, bekräftigen die
oft, doch niemals straflos verkannte Wahrheit, daß in dem Verbande der
civilisirten Völker selbst die mächtigste Nation nur in der weisen Beschränkung
auf die volle Entfaltung ihres inneren Wesens vor schweren Verwirrungen ge-
sichert bleibt. Auch Deutschland hat einst, indem die Herrscher den Ueber-
lieferungen eines fremdländischen Ursprunges folgten, durch Einmischung
in das Leben anderer Nationen die Keime des Verfalles empfangen. Das neue
Reich ist dem selbsteigenen Geiste des Volkes entsprungen, welches, nur zur
Abwehr gerüstet, unwandelbar den Werken des Friedens ergeben ist. In dem
Verkehr mit fremden Völkern fordert Deutschland für seine Bürger nicht mehr,
als die Achtung, welche Recht und Sitte gewährleisten, und gönnt, unbeirrt
durch Abneigung oder Zuneigung, jeder Nation, die Wege zur
Einheit, jedem Staate, die beste Form seiner Gestaltung nach
eigener Weise zu finden. Die Tage der Einmischung in das
innere Leben anderer Völker werden, so hoffen wir, unter keinem
Vorwande und in keiner Form wiederkehren. Ew. Majestät folgen
wir mit freudiger Zustimmung zu den dringenden Aufgaben, welche der be-
endete Krieg, und zu den dauernden Aufgaben, welche die Verfassurg des Reiches
uns stellt. Alle unsere Kräfte werden zuerst dem hohen Berufe gewidmet sein,
die Wunden zu heilen, welche der Krieg geschlagen hat, und die Pflicht des
Vaterlandes zu erfüllen gegen Diejenigen, welche Leben oder Gesundheit für
seinen Schutz geopfert haben. Allen Vorlagen werden wir unsere aufmerksame
Mitthätigkeit zuwenden. Es überrascht nicht, daß der Krieg die Vorarbeiten
der regelmäßigen Gesetzgebung verzögert hat, und vermindert nicht unsere
Hoffnung, daß die Gesetzgebung des Reiches sich eben so fruchtbar erweisen wird,
wie die Gesetzgebung des nordd. Bundes. Die umfangreiche Einführung nordd.
Gesetze in den Südstaagten erhöht unser Vertrauen zu dem harmonischen Zu-
sammenwirken aller Glieder des Reiches, auch der Organe, welche berufen sind,
die einzelnen Staaten zu vertreten. Mit Genugthuung vernehmen wir, daß
aus der Kriegsentschädigung zunächst das Bedürfniß des Reiches, sodann die
berechtigten Ansprüche seiner Mitglieder befriedigt werden sollen. Für das
Wohl der für Deutschland zurückerworbenen Gebiete ist das deutsche Volk mit
den wärmsten Gefühlen brüderlicher Theilnahme erfüllt. Die schönsten Denk-
mäler deutscher Cultur und deutschen Volkslebens erinnern an deutsche Ver-
gangenheit in Elsaß und Lothringen. Lange Entfremdung hat manche Spuren
eines reichen Jahrtausends deutscher Geschichte verwischt, doch unsere Sprache
und Sitte sind der Mehrzahl des Volkes noch unverloren. Mögen Gesetz-
gebung und Verwaltung zusammenwirken, an diese Beziehungen überall anzu-
knüpfen, das Wiedererwachen des deutschen Geistes zu unterstützen und in der
Versöhnung der Gemüther die Bande zu stärken, welche die herrlichen Provinzen
mit dem übrigen Deutschland wieder vereinigen. In diesem Geiste werden
wir uns den Arbeiten widmen, welche die Grundlagen der neuen Ordnung
schaffen oder vorbereiten sollen. Kaiserliche Majestät! Der Zufriedenheit
Deutschlands, der Sicherheit Europa's hat die Einheit des deutschen Reiches
gefehlt. Jetzt ist die Einheit errungen und das Reich unter dem Schutze seines
Kaisers, unter der Herrschaft seiner Verfassung und der Gesetze sicher gestellt.