Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                     Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                       89 
Jetzt kennt Deutschland keinen höheren Wunsch, als im Wettkampf um die 
Güter der Freiheit und des Friedens den Sieg zu erringen.“ 
       Die Differenz zwischen den Clericalen (der sog. Centrums-Fraction) betraf 
den Passus bez. einer Interventionspolitik. Die Thronrede hatte bloß gesagt, 
daß das deutsche Reich die Entwicklung der Staaten und „Völker“ — also 
natürlich auch die Bemühungen des italienischen Volkes zu Gründung seiner 
politischen Einheit — respectiren werde. Da nun eine Wiederholung dieses 
Passus von vornherein einer allfälligen diplomatischen oder kriegerischen Inter- 
vention zu Gunsten des Papstes gegen Italien einen Riegel vorzuschieben schien, 
so opponirten die Clericalen auf's heftigste gegen die Aufnahme derselben. Die 
Folge davon war, daß der Passus nur noch prägnanter gefaßt wurde, worauf 
die Clericalen sich von der Berathung zurückzogen und einen eigenen Gegen- 
Adreßentwurf einbrachten, der im übrigen wenig abweichend und äußerst 
loyal gehalten, von der bezüglichen Stelle der Thronrede einfach Umgang 
nehmen will. 
       Debatte: v. Bennigsen: Der Adreßentwurf, den wir vorgelegt haben, 
ist entstanden aus einer freien Vereinigung von Vertrauensmännern. Alle 
Parteien, mit Ausnahme der des Centrums, haben dokumentirt, daß sie mit 
demselben einverstanden sind. Diese war bis auf einen Punkt ebenfalls mit 
demselben einverstanden. Es ist der vierte Satz des Entwurfs, welcher der 
Partei des Centrums unannehmbar erschien. Ich weise darauf hin, daß dieser 
Satz sich eng an den vierten Satz der Thronrede anschließt, dem wir unsere 
volle Zustimmung gegeben haben. In demselben wird ausgesprochen, daß die 
Politik des neuen deutschen Reiches sich allein beschränken soll auf seine innere 
Gestaltung. Dieser Gedanke fehlt aber in dem Entwurfe Reichenspergers voll- 
ständig. Das hat dahin geführt, daß die so sehr gewünschte Einstimmigkeit 
für die Adresse nicht erreicht worden ist. Der Entwurf der Mehrheit ist ge- 
eignet, kriegerische Hoffnungen, welche die deutsche Politik auf Irrwege leiten 
könnten, von vornherein abzuschneiden. (Lebhaftes Bravo.) Wir können ja 
nicht leugnen, daß die Auferstehung des deutschen Reiches und die Namen 
Kaiser und Reich Erinnerungen wachrufen an eine Universalmonarchie, wie sie 
im Mittelalter im kriegerischen Volke der Deutschen stets lebendig waren. Die 
anderen Völker Europas haben in der Zeit, wo Deutschland stark war, den 
Druck dieses Strebens erfahren; ja, wir wollen es nicht verschweigen, es hat 
Zeiten gegeben, wo die Deutschen wegen ihrer Neigung, sich Macht und Ein- 
fluß in anderen Ländern zu verschaffen, der Schrecken Europas gewesen sind. 
Dieser Schrecken könnte sehr wohl wieder lebendig werden zu einer Zeit, wo 
unverhofft und unerwartet eine unerhörte Kraftentfaltung des deutschen Wesens 
zu Tage tritt. Es ist allerdings zu befürchten, daß diesem neu erstandenen 
deutschen Reich nicht das Vertrauen, sondern das Mißtrauen fremder Völker 
entgegengetragen wird. Manche Erscheinungen unangenehmer Art in unseren 
Nachbarländern haben bestätigt, daß solche Vorurtheile vorhanden sind. Und 
von vornherein Dem entgegenzutreten, haben wir um so mehr Veranlassung, 
als gerade jetzt dem Reiche früher entrissene Länder wieder gewonnen worden 
und wir immer noch von Nachbarn umgeben sind, deren Länder auch einmal 
in engem Zusammenhange mit dem deutschen Reich gestanden haben. Es 
können Befürchtungen laut werden, daß wir auch nach solchen Ländern ein 
Gelüste haben. Hier in Deutschland wissen wir, daß Dem nicht so ist, und 
daß derartige Gelüste weder bei den Regierungen noch bei den Vertretern des 
Volkes zu finden sind. Aber je mehr wir diese Ueberzeugung haben, um so 
mehr sind wir auch verpflichtet, wenn die Reichsregierung das Princip der 
Nichtintervention proklamirt, dazu unsere Zustimmung nicht zu versagen. Wir 
müssen hervorheben, daß das Kaiserthum weit entfernt ist, in die Bahnen 
deutsch-italienischer, in die Bahn deutsch-christlicher Politik einzutreten. Wir 
müssen von vornherein einen Markstein aufrichten, deutlich und sichtbar für 
alle Welt, daß unsere Politik begrenzt sein soll nur auf die inneren Aufgaben
	        
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