Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 89
Jetzt kennt Deutschland keinen höheren Wunsch, als im Wettkampf um die
Güter der Freiheit und des Friedens den Sieg zu erringen.“
Die Differenz zwischen den Clericalen (der sog. Centrums-Fraction) betraf
den Passus bez. einer Interventionspolitik. Die Thronrede hatte bloß gesagt,
daß das deutsche Reich die Entwicklung der Staaten und „Völker“ — also
natürlich auch die Bemühungen des italienischen Volkes zu Gründung seiner
politischen Einheit — respectiren werde. Da nun eine Wiederholung dieses
Passus von vornherein einer allfälligen diplomatischen oder kriegerischen Inter-
vention zu Gunsten des Papstes gegen Italien einen Riegel vorzuschieben schien,
so opponirten die Clericalen auf's heftigste gegen die Aufnahme derselben. Die
Folge davon war, daß der Passus nur noch prägnanter gefaßt wurde, worauf
die Clericalen sich von der Berathung zurückzogen und einen eigenen Gegen-
Adreßentwurf einbrachten, der im übrigen wenig abweichend und äußerst
loyal gehalten, von der bezüglichen Stelle der Thronrede einfach Umgang
nehmen will.
Debatte: v. Bennigsen: Der Adreßentwurf, den wir vorgelegt haben,
ist entstanden aus einer freien Vereinigung von Vertrauensmännern. Alle
Parteien, mit Ausnahme der des Centrums, haben dokumentirt, daß sie mit
demselben einverstanden sind. Diese war bis auf einen Punkt ebenfalls mit
demselben einverstanden. Es ist der vierte Satz des Entwurfs, welcher der
Partei des Centrums unannehmbar erschien. Ich weise darauf hin, daß dieser
Satz sich eng an den vierten Satz der Thronrede anschließt, dem wir unsere
volle Zustimmung gegeben haben. In demselben wird ausgesprochen, daß die
Politik des neuen deutschen Reiches sich allein beschränken soll auf seine innere
Gestaltung. Dieser Gedanke fehlt aber in dem Entwurfe Reichenspergers voll-
ständig. Das hat dahin geführt, daß die so sehr gewünschte Einstimmigkeit
für die Adresse nicht erreicht worden ist. Der Entwurf der Mehrheit ist ge-
eignet, kriegerische Hoffnungen, welche die deutsche Politik auf Irrwege leiten
könnten, von vornherein abzuschneiden. (Lebhaftes Bravo.) Wir können ja
nicht leugnen, daß die Auferstehung des deutschen Reiches und die Namen
Kaiser und Reich Erinnerungen wachrufen an eine Universalmonarchie, wie sie
im Mittelalter im kriegerischen Volke der Deutschen stets lebendig waren. Die
anderen Völker Europas haben in der Zeit, wo Deutschland stark war, den
Druck dieses Strebens erfahren; ja, wir wollen es nicht verschweigen, es hat
Zeiten gegeben, wo die Deutschen wegen ihrer Neigung, sich Macht und Ein-
fluß in anderen Ländern zu verschaffen, der Schrecken Europas gewesen sind.
Dieser Schrecken könnte sehr wohl wieder lebendig werden zu einer Zeit, wo
unverhofft und unerwartet eine unerhörte Kraftentfaltung des deutschen Wesens
zu Tage tritt. Es ist allerdings zu befürchten, daß diesem neu erstandenen
deutschen Reich nicht das Vertrauen, sondern das Mißtrauen fremder Völker
entgegengetragen wird. Manche Erscheinungen unangenehmer Art in unseren
Nachbarländern haben bestätigt, daß solche Vorurtheile vorhanden sind. Und
von vornherein Dem entgegenzutreten, haben wir um so mehr Veranlassung,
als gerade jetzt dem Reiche früher entrissene Länder wieder gewonnen worden
und wir immer noch von Nachbarn umgeben sind, deren Länder auch einmal
in engem Zusammenhange mit dem deutschen Reich gestanden haben. Es
können Befürchtungen laut werden, daß wir auch nach solchen Ländern ein
Gelüste haben. Hier in Deutschland wissen wir, daß Dem nicht so ist, und
daß derartige Gelüste weder bei den Regierungen noch bei den Vertretern des
Volkes zu finden sind. Aber je mehr wir diese Ueberzeugung haben, um so
mehr sind wir auch verpflichtet, wenn die Reichsregierung das Princip der
Nichtintervention proklamirt, dazu unsere Zustimmung nicht zu versagen. Wir
müssen hervorheben, daß das Kaiserthum weit entfernt ist, in die Bahnen
deutsch-italienischer, in die Bahn deutsch-christlicher Politik einzutreten. Wir
müssen von vornherein einen Markstein aufrichten, deutlich und sichtbar für
alle Welt, daß unsere Politik begrenzt sein soll nur auf die inneren Aufgaben