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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
erst in Zukunft zeigen. Der zweite Satz, welcher jener Schlichtheit wenig ent-
spricht, lautet: „Auch Deutschland hat einst, indem die Herrscher den Ueber-
lieferungen eines fremdländischen Ursprungs folgten, durch Einmischung in das
Leben anderer Nationen die Keime des Verfalles empfangen.“ Inwieweit die
aus diesem Satze sprechende Geschichtsauffassung richtig ist, will ich nicht unter-
suchen, aber ich nehme volle Freiheit auch für meine gegentheilige Geschichts-
auffassung in Anspruch. Der Satz: „Die Tage der Einmischung in das
innere Leben anderer Völker werden unter keinem Vorwande und in keiner
Form wiederkehren" macht mir die Annahme der Adresse völlig unmöglich.
Sie haben einem Vertrage mit Salvador Ihre Genehmigung ertheilt, der
jenem Staate Verpflichtungen auferlegt; wenn ihnen nun nicht entsprochen
wird, werden Sie dann auch von Nichtintervention sprechen? Wenn Deutsche
in Frankreich rechtlos gemacht werden sollten, werden Sie sich dann auch für
Nichtintervention entscheiden? Freilich handelt es sich hiebei lediglich um den
Schutz der materiellen Güter. Aber kann nicht die Möglichkeit eintreten, für
den Schutz ideeller Güter eintreten zu müssen? Unsere Adresse hält sich von
Ausschreitungen fern, ist daher sehr wohl dazu angethan, von dem Hause an-
genommen zu werden. Völk (Bayern): Um den Kern der Frage sind die
Gegner herumgegangen, wie um den heißen Brei die Katze. Während hier
die Gegner allerlei Theoreme aufgestellt haben über die Zulässigkeit der Inter-
ventions= und Nichtinterventionspolitik, gestaltete sich in der Praxis die Sache
weitaus anders. In den verschiedenen Wahlkreisen nämlich ist ganz einfach
dieses Theorem als Agitationsmittel benutzt worden. Man müsse, riefen die
gegnerischen Stimmführer, lediglich gut katholische Männer in den Reichstag
wählen, weil dieser die Aufgabe habe, bei der kaiserlichen Regierung auf eine
Intervention zu Gunsten des Papstes hinzuwirken. (Lärm, die Clericalen
rufen Nein, die Liberalen Ja.) Nach meiner Ansicht kann der Streit am
Besten dadurch beigelegt werden, daß die Clericalen hier öffentlich ihre Miß-
billigung über jenes Agitationsmittel aussprechen. Mein Wahlkreis ist ein
vorwiegend von Katholiken bewohnter, und als ich meinen Wählern gegenüber
erklärte, es handle sich für die Zukunft um die Abwehr germanischer Geistes-
freiheit gegen romanische Knechtschaft, haben mich die Gegner freilich keiner
übergroßen Treue gegen die Kirche geziehen, allein die Wähler haben die
bündigste Antwort ertheilt und mich mit nahezu 10,000 Stimmen gewählt.
Der Gegensatz zwischen Kaiser und Papst ist allerdings vorhanden, aber Letzterer
hat ihn selber geschaffen. An dem Papste ist es, solchen Sätzen seine Sanktion
nicht zu ertheilen, welche ihn nothwendig in einen Konflikt mit jedem der be-
stehenden Staaten führen müssen. Wie die Dinge nunmehr liegen, sind wir
gezwungen, diesen Gegensatz aufzunehmen und zu bekämpfen, das deutsche Volk
wird aber auch diesen Kampf siegreich bestehen. Wenn die Gegner trotz der
katholischen Universalität plötzlich allerlei partikularistische Neigungen offenbaren
und in ihrem Entwurfe die Hoffnung aussprechen, es werde das neue Reich
die Erhaltung berechtigter Besonderheiten der einzelnen Stämme gewährleisten,
so kann ich versichern, daß sich meine engere Heimath Bayern für die Con-
servirung ihrer unzähligen Rechte und Rechtlein bestens bedankt. Die be-
rechtigten Eigenthümlichkeiten der Stämme werden am Besten durch sie selber
gewährleistet und nicht durch die Conservirung gewisser Gesetze. Die Franken,
Schwaben, Bayern sind geblieben, was sie waren, trotz der Vereinigung unter
der bayrischen Krone. v. Oheimb (kons., früher Minister von Lippe-Detmold):
Als Mitglied der freien Adreßkommission habe ich die Pflicht, zu konstatiren,
daß wir bereit waren, den Wünschen des Centrums, das sich zu unserm Be-
dauern als eine confessionelle Fraktion konstituirt hat (Widerspruch), Rechnung
zu tragen; wir waren bereit, die vom Abg. v. Ketteler gerügten Sätze zu
ändern. Aber die Herren erklärten von vornherein alle Aenderungen für
nutzlos, sobald wir nicht ganz und gar auf ein Betonen des Princips der
Nichtintervention verzichteten. v. Bethusy-Huc (freikons.): Auch von dieser