Full text: Europäischer Geschichtskalender. Chronik und geschichtlicher Überblick der denkwürdigen Jahre 1870 und 1871. Zweiter Band. (11a)

                     Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.                      93 
Seite erheischt die Rede des Abg. v. Ketteler eine energische Abwehr. Er 
polemisirt zunächst gegen die Behauptung, daß das deutsche Reich nie so fest 
begründet gewesen sei wie jetzt, er beruft sich auf eine tausendjährige Geschichte, 
ich provozire ihn, aus dieser Geschichte eine einzige Thatsache anzuführen, die 
unsere Behauptung widerlegt. Wenn er das Wort: justitia fundamentum 
regnorum bei dieser Gelegenheit anwendet, so erwidere ich ihm, daß wir schon 
zahllose Beweise von der Gerechtigkeit haben, auf die das neue Reich sich 
gründet, von der Vertragstreue, die gleich groß ist in Nord und Süd; wir 
werden in den nächsten Tagen neue Proben haben. Wenn er sagt, unserer 
Zeit sei die Gottesfurcht abhanden gekommen, so verweise ich ihn auf die 
Frömmigkeit unserer Soldaten, auf das Benehmen der kranken und sterben- 
den; ich protestire dagegen, daß eine Partei die Gottesfurcht als ihre Domäne 
pachten will. (Lebhafter Beifall.) Der zweite Punkt, der ihm mißfällt, ist 
die Forderung, daß die deutsche Politik ihren Schwerpunkt nicht außerhalb 
der deutschen Grenzen suchen solle. Dieser Satz ist der Ausdruck einer unbe- 
streitbaren und auch unbestrittenen Wahrheit. Herr v. Ketteler schließt seine 
Deduktionen stets: Es scheint mir so. Nun, Das ist ein falscher Schein. 
Der dritte von ihm angegriffene Satz ist von Herrn Völk schon so nachdrück- 
lich vertheidigt, daß ich nichts hinzuzufügen brauche. (Beifall.) Windthorst 
(clerical): Ich hätte sehr gewünscht, daß wir zu einer Einigung gekommen 
wären; nur als Ausdruck unserer einmüthigen Ueberzeugung hat die Adresse 
Bedeutung, sonst nicht. (Großer Lärm.) Wenn Herr v. Oheimb uns die 
Schuld an der Zwietracht zuschiebt, weil wir konfessionelle Zwecke verfolgten, 
so erwidere ich ihm: Wir sind gar nicht konfessionell (Oho!); Jedem, welcher 
Religion er angehöre, steht der Eintritt in unsere Fraktion offen, sobald er 
ihre Statuten unterschreibt (Heiterkeit). Es ist klar, daß Sie die Majorität 
haben; ich will nicht erörtern, wie Das zugeht (Heiterkeit), aber es ist nicht 
wohlgethan, an der Schwelle des neuen Reichs diese Diskussion zu provoziren. 
Sie könnte sehr leicht unangenehme, trennende Gefühle hervorrufen (Rufe 
links: Sie sind schon da), und wenn sie schon da sind, so sollten wir nicht in 
den Wunden wühlen, sondern sie mit sanfter Hand verbinden. Zunächst ist 
darüber gestritten worden, ob Deutschland zu einer Zeit seiner Geschichte 
mächtiger dagestanden habe als jetzt. Ich für meinen Theil möchte aber doch 
die Jahre 13 und 14 nicht aus der deutschen Geschichte ausgestrichen sehen. 
Die Söhne waren im letzten Kriege der Väter werth, aber sie waren nicht 
größer. Jene Kriege brachten uns einen Bund, der die ganze Nation umfaßte 
(Lärm); jetzt haben wir in unserem Reiche nur einen Theil Deutschlands 
(großer Lärm); der Bund brachte uns 50 Jahre Frieden, ich will hoffen, das 
Reich macht es ebenso. Wenn uns Graf Bethusy für die nächsten Tage einen 
Akt seiner justitia ankündigt, und wenn Das das Vollmaß der deutschen 
justitia sein soll, dann bedauere ich das Reich. (Heiterkeit.) Unsere Fraktion 
macht keinen Anspruch auf ein Monopol der Frömmigkeit; aber freilich sind 
wir noch weniger geneigt, die Pflege der Gottesfurcht der Fraktion des Herrn 
Abgeordneten zu überlassen. (Große Heiterkeit.) Es ist allerdings für Deutsch- 
land zweckmäßig, auf Eroberungskriege zu verzichten. Aber damit entsagen 
wir noch lange nicht der Intervention, wo sie berechtigt ist. Die Thronrede 
selbst spricht von den vermittelnden Bemühungen der deutschen Diplomatie in 
der Pontusfrage. Das war eine solche kleine Intervention, wie wir sie meinen. 
(Große Heiterkeit.) Ich verlange für die Wiederaufrichtung des päpstlichen 
Stuhls keine andere und keine kräftigere Intervention. (Bewegung.) Wollen 
Sie nicht, dann sagen Sie lieber gleich: Ueberall wollen wir nach dem Rechten 
sehen, nur in dieser Sache nicht (heftiger Widerspruch); das ist des Pudels 
Kern; Sie wollen erklären, die vitalen Interessen Ihrer katholischen Mitbürger 
unberücksichtigt zu lassen. (Heftiger Widerspruch.) Ja, es ist ein Lebens- 
interesse, ein Recht, auf das die katholischen Deutschen Anspruch haben, daß 
ihr geistliches Oberhaupt selbständig und unabhängig sei und nicht nur ein
	        
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