Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 93
Seite erheischt die Rede des Abg. v. Ketteler eine energische Abwehr. Er
polemisirt zunächst gegen die Behauptung, daß das deutsche Reich nie so fest
begründet gewesen sei wie jetzt, er beruft sich auf eine tausendjährige Geschichte,
ich provozire ihn, aus dieser Geschichte eine einzige Thatsache anzuführen, die
unsere Behauptung widerlegt. Wenn er das Wort: justitia fundamentum
regnorum bei dieser Gelegenheit anwendet, so erwidere ich ihm, daß wir schon
zahllose Beweise von der Gerechtigkeit haben, auf die das neue Reich sich
gründet, von der Vertragstreue, die gleich groß ist in Nord und Süd; wir
werden in den nächsten Tagen neue Proben haben. Wenn er sagt, unserer
Zeit sei die Gottesfurcht abhanden gekommen, so verweise ich ihn auf die
Frömmigkeit unserer Soldaten, auf das Benehmen der kranken und sterben-
den; ich protestire dagegen, daß eine Partei die Gottesfurcht als ihre Domäne
pachten will. (Lebhafter Beifall.) Der zweite Punkt, der ihm mißfällt, ist
die Forderung, daß die deutsche Politik ihren Schwerpunkt nicht außerhalb
der deutschen Grenzen suchen solle. Dieser Satz ist der Ausdruck einer unbe-
streitbaren und auch unbestrittenen Wahrheit. Herr v. Ketteler schließt seine
Deduktionen stets: Es scheint mir so. Nun, Das ist ein falscher Schein.
Der dritte von ihm angegriffene Satz ist von Herrn Völk schon so nachdrück-
lich vertheidigt, daß ich nichts hinzuzufügen brauche. (Beifall.) Windthorst
(clerical): Ich hätte sehr gewünscht, daß wir zu einer Einigung gekommen
wären; nur als Ausdruck unserer einmüthigen Ueberzeugung hat die Adresse
Bedeutung, sonst nicht. (Großer Lärm.) Wenn Herr v. Oheimb uns die
Schuld an der Zwietracht zuschiebt, weil wir konfessionelle Zwecke verfolgten,
so erwidere ich ihm: Wir sind gar nicht konfessionell (Oho!); Jedem, welcher
Religion er angehöre, steht der Eintritt in unsere Fraktion offen, sobald er
ihre Statuten unterschreibt (Heiterkeit). Es ist klar, daß Sie die Majorität
haben; ich will nicht erörtern, wie Das zugeht (Heiterkeit), aber es ist nicht
wohlgethan, an der Schwelle des neuen Reichs diese Diskussion zu provoziren.
Sie könnte sehr leicht unangenehme, trennende Gefühle hervorrufen (Rufe
links: Sie sind schon da), und wenn sie schon da sind, so sollten wir nicht in
den Wunden wühlen, sondern sie mit sanfter Hand verbinden. Zunächst ist
darüber gestritten worden, ob Deutschland zu einer Zeit seiner Geschichte
mächtiger dagestanden habe als jetzt. Ich für meinen Theil möchte aber doch
die Jahre 13 und 14 nicht aus der deutschen Geschichte ausgestrichen sehen.
Die Söhne waren im letzten Kriege der Väter werth, aber sie waren nicht
größer. Jene Kriege brachten uns einen Bund, der die ganze Nation umfaßte
(Lärm); jetzt haben wir in unserem Reiche nur einen Theil Deutschlands
(großer Lärm); der Bund brachte uns 50 Jahre Frieden, ich will hoffen, das
Reich macht es ebenso. Wenn uns Graf Bethusy für die nächsten Tage einen
Akt seiner justitia ankündigt, und wenn Das das Vollmaß der deutschen
justitia sein soll, dann bedauere ich das Reich. (Heiterkeit.) Unsere Fraktion
macht keinen Anspruch auf ein Monopol der Frömmigkeit; aber freilich sind
wir noch weniger geneigt, die Pflege der Gottesfurcht der Fraktion des Herrn
Abgeordneten zu überlassen. (Große Heiterkeit.) Es ist allerdings für Deutsch-
land zweckmäßig, auf Eroberungskriege zu verzichten. Aber damit entsagen
wir noch lange nicht der Intervention, wo sie berechtigt ist. Die Thronrede
selbst spricht von den vermittelnden Bemühungen der deutschen Diplomatie in
der Pontusfrage. Das war eine solche kleine Intervention, wie wir sie meinen.
(Große Heiterkeit.) Ich verlange für die Wiederaufrichtung des päpstlichen
Stuhls keine andere und keine kräftigere Intervention. (Bewegung.) Wollen
Sie nicht, dann sagen Sie lieber gleich: Ueberall wollen wir nach dem Rechten
sehen, nur in dieser Sache nicht (heftiger Widerspruch); das ist des Pudels
Kern; Sie wollen erklären, die vitalen Interessen Ihrer katholischen Mitbürger
unberücksichtigt zu lassen. (Heftiger Widerspruch.) Ja, es ist ein Lebens-
interesse, ein Recht, auf das die katholischen Deutschen Anspruch haben, daß
ihr geistliches Oberhaupt selbständig und unabhängig sei und nicht nur ein