Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 121 
1. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: Debatte über den (von 138 
Mitgliedern unterzeichneten) Antrag auf Herabsetzung des Salzpreises. 
In der Debatte erkärt sich v. Kardorff Namens der Freiconservativen 
im Princip mit dem Antrage einverstanden, will aber doch nicht Anlaß dazu 
geben, von den unmittelbaren Einnahmen des Reichs etwas abzustreichen, ehe 
nicht ein Ersatz dafür gefunden sei, wofür er den Tabak und sodann den 
Stempel anbietct. Der Präsident des Reichskanzleramts v. Delbrück accep- 
tirt eventuell diese Anerbietungen und fügt denselben als weiteres Object noch 
das Bier hinzu. Fürst Bismarck erklärt sich dagegen entschieden gegen die 
Eile, die Salzsteuer abschaffen zu wollen. Ich bin der Einzige, dem die Ver- 
fassung eine Verantwortlichkeit auferlegt für die Ausführung der Gesetze und 
der Verfassung . Ich weiß nicht, ob es noch schlechtere Steuern wie die 
Salzsteuer in den einzelnen Ländern gibt, und ich möchte doch dagegen Zeug- 
niß ablegen, daß nicht gerade diese Reichssteuer, — wir haben sehr wenig 
Objecte, die wir im Rciche besteuern können, sie find vertragsmäßig festgestellt, 
— so gekennzeichnet werde, als sei sie eine höchst ungerechte und es sei eine 
unnöthige Bedrückung des armen Mannes, wenn sie auch nur noch einen Tag 
in dem Maße fortbestände, in dem sie seit Jahren bestanden hat. Es ist 
jedes Mal die Steuer, die das Reich gerade am meisten braucht, als eine den 
armen Mann besonders drückende bezeichnet worden. Als man in dem Locale 
am Dönhofsplatze über die Tabaksteuer sprach, erinnere ich mich, daß die 
Pfeise des armen Mannes eine sehr große Rolle spielte. (Heiterkeit.) Wie 
von Petroleum gesprochen wurde, war es die Beleuchtung des armen Mannes; 
aber so lange wir noch das Brod und Fleisch besteuern, muß ich sagen, rechne 
ich dergleichen Aeußerungen in das Gebiet derjenigen politischen Heuchelei 
(Ruf: Oh, Ohl Pfuil), die man auf politischem Gebiet für erlaubt 
hält und sich und andern concedirt. Meine Herren! Sie sehen, 
ich nehme mich nicht aus. Ich mache unter Umständen auch da- 
von Gebrauch. Etwas Verlegzendes liegt also darin nicht, und in constilu- 
tionell ausgebildetern Staaten geht der Accent, den man unter Umständen 
auf die Pfeife des armen Mannes legt, als könnte er die Speise leichter als 
den Tabak entbehren, viel weiter als bei uns; aber ich muß sagen, lo lange 
wir in einem sehr großen Bundesstaate noch das Brod und das Fleisch besteuern, 
haben wir kein Recht, die Salzsteuer auf diese Weise zu brandmarken, als 
wäre es gerade ein Mangel an Pflichtgefühl, daß die Regierungen sie nicht 
längst ausgehoben haben .. Ich möchte das Glaubensbekenntniß ablegen und 
offen bekennen — ich muß den Muth der Verantwortlichkeit und der Meinung 
haben — daß ich die Salzsteuer noch nicht für die schlechteste unter den be- 
stehenden halte, daß ich für das Reich die Matricular-Beiträge noch für 
schlechter halte, und daß ich meinerseits eher für die Erhöhung der Salzsteuer, 
als für die Erhöhung der Matricular-Beiträge stiumen würde. .. Ich möchte 
dieses Glaubensbekenntniß, das mir Bedürfniß war, nicht schließen, ohne 
an das Gefühl der politischen Verantwortlichkeit, welches jedem Antragsteller 
beiwohnen sollte noch zu erinnern. Nach der Verfassung ist allerdings der 
Kanzler ganz allein verantwortlich; der Kanzler kann aber den Strom nicht 
aufhallen, wenn die Widerstandsfähigkeit der vereinigten Regierungen gegen 
eine Vorlage, die sie für nicht richtig, für bedrlickend und für politisch gefähr- 
lich halten würden, auch nicht so schwach ist, wie der Herr Abg. v. Hoverbeck 
sie vorhin andeutete. Sie werden dem civium ardor prava jubentium nicht 
so leicht und rasch unterliegen, als er der Meinung ist. Der Kanzler aber 
kann dem allein nicht widerstehen, er kann unter Umständen sagen: es ist wider 
mein Gewissen zu unterschreiben; und dann tritt die Verfassungsfrage ein, ob 
Seine Maiestät der Kaiser einen Kanzler findet, der bereit ist (Bewegung), zu 
unterschreiben. Aber ich möchte Sie bitten, meine Herren, daß doch Jeder, 
der einen solchen Antrag stellt, sich von demselben Kanzlerischen Verantwort- 
  
 
	        
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