Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

124 Das deutsche Reich und seine einjelnen Slieder. 
innerhalb der Kirche die Grenzlinien zwischen Inhalt und Form des evangeli- 
schen Bekenntnisses gegenwärtig sehr verschieden bestimme. Diese Entwickelung 
sei nicht willkürlich von Einzelnen gemacht, sondern unter göttlicher Leitung 
geworden. Versuche man daher die Arbeit des nach Wahrheit suchenden 
Geistes nach eigenem willkürlichen Ermessen in unüberschreitbare Schranken zu 
bannen, so stehe zu befürchten, daß die Kirche sich in Widerspruch setze mit 
dem Principe, dem sie ihr Dasein verdanke und von dem ihre Erhaltung 
und Weiterentwickelung bedingt sei. Die Unterzeichner würden nicht bloß die 
größte Schädigung der evangelischen Kirche selber, sondern auch die schwerste 
Gefährdung des ganzen Culturlebens unseres Volks darin erblicken, wenn 
gerade die Richtung, welche die innere Vermittlung der Weltkultur und der 
christlichen Frömmigkeit sich zur Aufgabe gesetzt habe und die sich damit in 
wahrer Einheit wisse sowohl mit dem christl. Princip der Kirche, als mit dem 
gegenwärtigen Leben und Streben des deutschen Volkes, für rechtlos und mundtodt 
in der Kirche erklärt würde. Die Kirche würde dadurch in die gleiche geistige 
Erstarrung und feindselige Spannung mit der modernen Gesellschaft und dem 
Staate gerathen, welche man jetzt an der römisch-katholischen Kirche beklage, 
die bürgerliche Gesellschaft aber, der unentbehrlichen religiösen Grundlage jeder 
sittlichen Ordnung beraubt, ihrem unvermeidlichen Verfalle entgegengehen. 
Würden dagegen die verschiedenen Nichtungen der Kirche, die auf dem Grunde 
des Evangeliums stehen, als gleichberechtigt anerkannt und lernten sie sich 
gegenseitig ehrlich und rückhaltlos vertragen, so werde die gegenseitige Partei- 
verbitterung aufhören und sich eine bessere und dauerhaftere kirchliche Einheit 
anbahnen, als sie je durch die Gewaltmaßregeln einer ebenso unweisen als 
unevangelischen Kirchenpolitik zu Stande kommen werde. Unterzeichnet sind 
außer den Mitgliedern der theologischen Fakultät zu Jena zahlreiche Profef- 
soren, höhere Geistliche, Gymnasial= und andere Lehrer, richterliche und son- 
stige Staatsbeamte, Industrielle u. s. w. aus fast allen deutschen Staaten; 
aus Bayern die Landtagsabgeordneten Dr. Aub, Crämer, Exter, P. Gel- 
bert, Jacob, Kraußold, Marquardsen, Rothaas und Wülfert, aus Baden 
die Professoren Holtzmann, Stoy und Zeller, die Abgg. Kiefer und Lamey, 
Dekan Schellenberg; aus Brandenburg Reg.-Nath Böckh und Direktor 
Bonell; aus Elsaß-Lothringen Rektor Bruch; aus Hannover Pastor 
Bödeker; aus Hessen-Nassau Dr. Jucho, Dr. Oetker, Nebelthau, Frese- 
nius, Hergenhahn; aus Sachsen die Professoren Albrecht, Dreydorff, Dro- 
bisch, Eckstein, Overbeck, Nilschl, Weber und Zarncke, Gustav Freytag, Ober- 
handelsgerichtsrath Puchelt; aus Eisenach Fritz Reuter; aus Gotha Ge- 
neralsup. Petersen, Oberhofprediger Schwarz; aus Württemberg die 
Reichstagsmitglieder Goppelt, Notter und Reyscher, dann der Landtagsabge- 
ordnete Fetzer 2c. 2c. 
Gleichzeitig beschließt in Berlin eine von den Führern der vor 
zwei Monaten dort in Fluß gebrachten Bewegung, an ihrer Spitze 
der Vorsitzende der Stadtverordneten Kochhann, einberufene Ver- 
sammlung evangelischer Männer eine Petition an den Magistrat, in 
welcher eine kirchliche Verfassung gefordert wird, die den evangelischen 
Gemeinden das ihnen zukommende entscheidende Wort über ihren 
christlichen Glauben und die Vertrauenswürdigkeit ihrer Geistlichen 
einräumt und die Wiederholung von Anklagen verhüte, wie sie jetzt 
gegen die Prediger Lisco und Sydow erhoben worden seien. 
13.— 14. Mai. Versammlung des deutschen Handelstages in Leipzig. Leb- 
hafte Debatte über die Bankfrage: Kampf zwischen den Anhängern 
des Notenmonopols einer Reichsbank und demjenigen der Notenfreiheit
	        
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