Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 143 
das gesammte bürgerliche Recht für die Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung 
vindicirt wird, während, wie das, glaube ich, mit vollem Rechte von dem 
königlich bayerischen Herrn Bevollmächtigten bereits angeführt wurde, unter 
den verbündeten Regierungen sowohl, als auch in Mitte dieser hohen Ver- 
sammlung man so ziemlich einverstanden darüber ist, daß es gerade im Privat- 
rechte gewisse Gebiete gibt, auf welchen die Reichsgesetzgebung ihr Feld nicht 
hat, oder auf welchem sie doch nur in beschränkter und subsidarischer Weise 
thätig sein kann. Diese Gebiete sind von mehreren Nednern bereits genannt 
worden. Nun muß es doch wohl als ein Mangel des Antrags und nicht 
als ein Fehler Derjenigen, die ihm zuzustimmen noch Bedenken tragen, er- 
scheinen, wenn die Fassung des Antrages weiter zu gehen scheint, als er eigent- 
lich bezielt, wenn mit besonderer Betonung das gesammte bürgerliche Recht der 
Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung zugewiesen werden will, während man in 
Wirklichkeit glaubt oder wenigstens nicht bestreitet, daß nicht das gesammte 
bürgerliche Recht durch die Reichsgesetzgebung geordnet werden soll, wenn also 
in die Reichsverfassung eine Formel hineingetragen wird, die dem Gedanken 
der ausgesprochenen Intention nicht vollkommen adäquat ist. Es wird aller- 
dings bemerkt, es sei eben nicht möglich, für den Ausdruck dieses an und für 
sich nicht unberechtigten Gedankens einer Beschränkung, eines Maßhaltens der 
Reichsgesetzgebung im Gebiele des Privatrechts eine Formel zu finden, aber 
ich wiederhole, daß dieß dann ein Mangel des Antrogs, nicht unser Fehler 
ist. Wenn sodann weiter beruhigend hier gesagt wird, daß, wenn eigenar- 
tige Rechtsbildungen lebenskräftig seien, diese Lebenskraft auch der Reichs- 
gesetzgebung gegenüber sich bewähren und geltend machen werde, so scheinen 
mir doch die Garantien dafür, daß eigenartige Rechtsbildungen stets rechtzeitig auch 
nur zur vollen Würdigung der gesetzgeberischen Factoren des Reiches werden 
gebracht werden, noch nicht in vollem Maße vorhanden zu sein, eine Befülrch- 
tung, die aus dem, was ich nachher zu sagen die Ehre haben werde, ihre 
Begründung finden wird. Was den rechten Zeitpunkt der vorgeschlagenen 
Competenzerweiterung betrifft, so können Bedenken in dieser Beziehung eigent- 
lich nicht überraschen, da es auch ein öffentliches Geheimniß ist, daß noch im 
Juni 1869 der Bundesrath des norddeutschen Bundes so ziemlich einstimmig 
der Meinung gewesen ist, dem Beschlusse des norddeutschen Reichstages, 
demselben Beschlusse, wie er jetzt von Seiten des deutschen Reichstages in 
Aussicht zu stehen scheint, zur Zeit eine Folge nicht zu geben. Meine Herren, 
seitdem ist das deutsche Reich gegründet worden, nach Verhandlungen, die auch 
auf den Inhalt dieser Nummer 13 des Artikels 4 sich bezogen haben. Es 
waren Bedenken gegen diese Nr. 13 erhoben worden in der Richtung, daß sie 
zu weit gehe, Bedenken, die eben nicht ganz leicht zu beseitigen waren. Diese 
Bedenken sind überwunden worden, qber dafür, daß schon nach einem oder 
nach anderthalb Jahren der Reichskag und der Bundesrath des deutschen 
Reiches noch weiter gehen werden, dafür bieten wenigstens, soviel ich unter- 
richtet bin, die Verhandlungen vom Herbst 1870 einen bestimmten Anhalts- 
punkt nicht. Es hat zwar einer der geehrten Herren gemeint, ja, in Versailles 
sei das deutsche Volk nicht gewesen; das ist richtig, aber es wurde, was in 
Versailles vereinbart worden, der Vertretung des deutschen Volkes vorgelegt, 
und diese Vertretung hat es genehmigt. Nun, der von mir angeführte Um- 
stand ist ja gewiß ein formelles Hinderniß gegen die vorgeschlagene Ver- 
fassungsänderung nicht, aber er wird doch den Wunsch erklären, daß wenigstens, 
so lange von Seiten eines damaligen Contrahenten an Bedenken in dieser 
Frage noch festgehalten wird, man die erforderliche Zeit zur Beilegung der 
Sache behalte, daß sie nicht in einer Weise betrieben werde, die vielleicht für 
die Erreichung des vorgesetzten Zieles gerade nicht die beste sein wird. So- 
dann, meine Herren, stimme ich mit dem königlich bayerischen Herrn Bevoll- 
mächtigten darin Überein: so gewiß die Verfassung des deutschen Reiches noch 
Aenderungen erleiden wird und erleiden muß — vielleicht kommt ja noch die
	        
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