Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

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Das dentische Reich und seine einzelnen Clleder. 
Zeit, wo auch die verbündeten Regierungen mit Vorschlägen auf Verfassungs- 
änderungen hervortreten —, so gewiß werden Sie es doch begreiflich finden 
— Sie würden zutreffenden Falls ja gerade so verfahren müssen —, wenn in 
jedem einzelnen Fall einer vorgeschlagenen Verfassungsänderung die Oppor- 
tunitäts= und Bedürfnißfrage von allen betheiligten Regierungen ganz genau 
erwogen wird. Tie Dringlichkeit aber gerade für die vorliegende Verfassungs- 
änderung schien mir bis jetzt noch nicht genügend nachgewiesen zu sein. Meine 
Herren, das Specialgesetz, dessen Stoff bisher der Reichsgesetzgebung entzogen 
war und das jetzt von der Reichsgesetzgebung zufolge des neuen Antrags in 
Angriff genommen werden soll, das ist noch gar nicht genannt. Es war bei- 
läufig von der obligatorischen Civilehe die Rede, aber nicht in der Weise, daß 
man annehmen könnte, es sei die Meinung der Antragsteller überhaupt, daß 
die obligatorische Civilehe das Specialgesetz sei, um dessen Herstellung es sich 
zunächst handeln würde. Also nicht einmal das Spccialgesehz, welches so dring- 
lich sein soll, kennen wir bis jetzt. Sodann wissen wir ja, daß in Folge all- 
gemein beklagter Störung in der Weiterführung der bereits in Angriff 
genommenen Gesetzgebung über das gerichtliche Verfahren 2c. eine unvorausgesehene 
unerwünschte Verzögerung eingetreten ist. Und endlich, meine Herren, scheint 
mir die Dringlichkeit auch deßhalb noch nicht nachgewiesen zu sein, weil man 
doch im Ganzen noch so wenig einig darüber ist oder zu sein scheint, wie denn 
das Reich die ihm zuzuweisende neue Zuständigkeit Üben soll. Daß es noch so 
wenig entschieden ist, ob das Reich die neue Zuständigkeit üben soll durch den 
Erlaß von Specialgesetzen, oder ob eine allgemeine bürgerliche Gesetzgebung in 
Angriff genommen werden soll, das scheint mir die Zustimmung zu dem vor- 
liegenden Antrage nicht eben zu erleichtern. Auch ich, meine Herren, würde 
persönlich entschieden für Codification mich aussprechen, nicht deßhalb, weil ich 
darin eine Vertagung ohne Termin sehen würde, wie der Herr Abg. Lasker 
es genannt hat; nein, wenn ich für Codification mich ausspreche, so schließe ich 
durchaus nicht vorgängig nothwendige Specialgesetze aus, nur möchte ich 
Specialgesetze zu anerkannten Ausnahmen machen und möchte darüber ver- 
sichert sein, daß man an maßgebender Stelle als das wirklich zu erreichende 
Ziel die Codification betrachtet. Ich glaube nicht, daß das, was bisher gegen 
die Aufstellungen des bayerischen Herrn Bevollmächtigten in dieser Beziehung 
angeführt wurde, durchschlagend ist; denn, meine Herren, wenn es unmöglich 
ist, nur einen Theil der Privatrechts-Gesetzgebung dem Reiche zu Überweisen, 
weil die Privatrechts-Disciplinen alle untrennbar unter sich zusammenhängen, 
so glaube ich, ist die Folgerung gar nicht abzuweisen, daß es aus demselben 
Grunde auch schädlich wirken muß, wenn das Reich durch eine Reihe von 
Specialgesetzen eingreifen wollte in die bestehenden Privatrechtssysteme der ein- 
zelnen Staaten. Ja, meine Herren, ein solches Specialgesetz zieht das andere 
nach sich; das eine würde unter dem Vorwiegen dieser Strömung, das andere 
unter dem Einfluß einer andern zu Stande kommen; ich kann nicht anders 
annehmen, als daß unter einer solchen Art, Privatrechts-Gesetzgebung zu 
machen, denn doch der Ueberblick über das Ganze und der Zusammenhang des 
Ganzen leiden müßte, und daß wir wirklich in den einzelnen Staaten einen 
unerwünschten Zustand von Rechtsungewißheit und von beständigem Wechsel 
und Fluß der Privatrechts-Gesetzgebung bekämen, wenn wirklich nur Specialgesetze 
zu machen und so die Privatrechts-Gesetzgebung zu regeln das Absehen dieses 
Antrags wäre. Ich bin persönlich der Meinung, daß nationale Rechtseinheit nicht 
durch Special= und Gelegenheitsgesetze erlangt werden kann, sondern nur durch 
eine einheitliche Codification. Nun, meine Herren, habe ich noch einen weiteren 
Punkt auf dem Herzen, und zwar betrifft derselbe die Mitwirkung der 
Bundesstaaten bei der in Aussicht genommenen nationalen 
Privatrechts-Gesetzgebung. Ich habe mir unter nationaler Rechts- 
gesetzgebung bisher gedacht und denke mir noch darunter eine Rechtsgesetzgebung 
unter Mitwirkung Aller, unter Beachtung des Rechtszustandes von ganz
	        
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