Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 175 
Reichsgewalt zum Triumphe zu verhelfen sucht. Es ist darum völliger Blöd- 
finn, von einem Deutschland unter Preußens Führung etwas für die Kirche, 
für die Wiederherstellung einer christlichen Staatsordnung zu erwarten. Die 
ganze geschichtliche Entwickelung Preußens kennzeichnet eine solche Anschauung 
als unverzeihlichen Irrthum. Das „Neich“ in seiner dermaligen Gestalt ist 
nichts Anderes, als die concrete politische Darstellung der letzten Phase des 
Prolestantismus, des Aufruhrs der Völker gegen Golt, und so gewiß es ist, 
daß diese letzte Phase keine Zukunft hat, ebenso gewiß ist es, daß mit ihr 
auch das „deutsche Reich“ unter Preußens Führung ins Grab sinken wird. 
Die Kirche aber wird das Grab zudecken und über dem Grabeshügel ein neues, 
mächtiges deutsches Reich unter christlicher Führung und mit christlichen Ge- 
schen aufbauen helfen. Die allmälige Herbeiführung der gegenwärtigen poli- 
tischen Machtstellung Preußens ist eine Reihe von Attentaten auf die göttliche 
und menschliche Rechtsordnung; das dermalige „Reich“ steht darum thatsächlich 
und seinem ganzen geschichtlichen Ursprunge nach auf dem Boden der Nevo- 
lution, unter deren fortwährender Beihilfe es geschaffen wurde. Hieraus folgt, 
daß die Bismarckische Schöpfung schon in ihrer Entstehung, weil jeder Rechts- 
basis entbehrend, vom Standpunkt der natürlichen wie der christlichen Moral 
aus zu verwerfen ist. Zum gleichen Schlusse gelangt man, wenn man die 
seitherige Entwickelung des „Reiches“ in Betracht zieht; diese ist antichrifllich 
und revolutionär. Man überblicke einmal die anderthalbjährige neue Reichs- 
geschichte von der ersten Eröffnung des Reichstages angefangen bis zur Aus- 
führung des Jefsuitengesetzes und halte Umschau über die reichsgesetzlichen Akte 
und Thaten, und dann sage man uns, ob das „Reich“ in seiner Entfaltung 
nicht genau seinem Ursprunge entspricht, ob es sich nicht als ein Reich der 
Gewalt, des Despotismus und der Empörung gegen die christliche Weltord- 
nung vor Aller Augen entpuppt hat, ob die neue Reichsfahne nicht die Fahne 
des modernen Liberalismus ist, welcher mit dem „Reiche“ sich identificirt und 
unter dessen Fittigen und von ihm gestärkt, ermuntert und beschützt, den Ver- 
nichtungskampf gegen die Kirche und das Christenthum aufnimmt? Will 
man aufrichtig sein und für die Wahrheit Zeugniß ablegen, so muß man 
dies zugestehen und dem Satze beipflichten: das gegenwärtige „deutsche Reich 
in seiner bisherigen Entwickelung ist ein Reich des religiösen und politischen 
Umsturzes und schreitet geraden Weges darauf los, den „modernen Staat“, 
den Staat der Freimaurerei, mit allen seinen Ungeheuerlichkeiten zur vollen 
Verwirklichung zu bringen. Das ist der Anblick, welchen das neue „Reich“, 
näher betrachtet, gewährt, das der Eindruck, den es auf jeden unbefangenen 
Beobachter hervorbringt. Und ein solches Reich sollen wir lieben, ihm unsere 
Sympathien entgegentragen, für seine Erhaltung und Fortentwicklung thätig 
sein : Nein, dazu wird uns Niemand vermögen. Ein Gebäude, welches auf 
völlig morscher Grundlage ruht, eine Pflanzung, die schon in der Wurzel 
vergiftet ist, ein Reich, dessen Ursprung und Entwickelung ein Angriff auf die 
göttliche und menschliche Ordnung ist, verdient unsere Liebe, unsere Unter- 
stützung nicht. Die Pflichten, die wir dem „Reiche“ gegenüber haben, sind 
fast nur negativer Natur und lassen sich in die Worte zusammenfassen: nicht 
revoltiren, sondern das Unglück mit Geduld ertragen, bis der Herr die Zucht- 
ruthe wieder hinwegnimmt und einer besseren Ordnung Platz macht. Das 
neue „Reich“ besitzt keine Lebensfähigkeit, es ist ein todtgebornes Kind, das 
gar bald wieder in das Grab zurücksinken wird. Denn nimmermehr läßt sich 
mit Kanonen und Zündnadelgewehren, also mit roher Gewalt, auf die Dauer 
ein Staatskörper zusammenhalten und namentlich dann nicht, wenn diese 
Kanonen und Zündnadelgewehre gegen das Herz der Kirche, dieser von Gott 
selbst gepflanzten Säule aller Rechtsordnung, gerichtet sind. Ein solcher Körper 
muß naturgemäß auseinanderfallen. Jene, welche sich schmeicheln, „reichstreu" 
zu sein, glauben dieß nicht; obwohl höchlich unzufrieden mit dem Reiche, 
halten sie doch die bisherigen Auswüchse mehr für zufällige Eitergeschwüre, 
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.