Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
als eine muthige That, daß das Central-Komité ihn in seiner Eigenschaft als 
Vorsitzenden des deutschen Protestanten-Vereins eingeladen habe, den Verhand- 
lungen beizuwohnen. Er erkenne sehr wohl an, daß die Altkatholiken mit 
Bezug auf Dogma, Cultus, Kirchenverfassung rc. der anglikanischen und der 
russischen Kirche näher stünden, als der protestantischen deutschen. Trotzdem 
bestehe ein viel lebhafteres Bedürfniß der Verständigung zwischen den deutschen 
Katholiken und den deutschen Protestanten. In Deutschland habe der con- 
fessionelle Zwiespalt Jahrhunderte lang das ganze Dasein erschüttert und ge- 
fährdet, besonders in jenem verderblichen 30jährigen Kriege, welchen die Jesuiten 
hervorgerufen und seine Beilegung so lange verhindert, dieselben Leute, die 
gegenwärtig es wieder thäten, wenn sie die Macht dazu hätten. (Lebhafter 
Baeilall) Seither habe man in Deutschland gelernt, daß es nicht möglich sei, 
die confessionellen Dinge mit physischen Waffen zu erledigen, daß die Gegen- 
sätze auch in den wichtigsten religiösen Dingen nebeneinander bestehen müßten, 
weil keine Meinung stark genug sei, die anderen zu unterwerfen. Seines 
Erachtens sei eine Verständigung, eine Wiedervereinigung auf dem Boden des 
Dogma's unmöglich. Unter den Protestanten selber sei sie ja nicht einmal 
möglich. Sie sei aber auch nicht nöthig. Das Licht sei nur Eines, aber es 
erscheine in vielfach gebrochenem Farbenspiel. Auch mit Bezug auf den Cultus 
und die Kirchenverfassung sei eine Vereinigung gegenwärtig nicht möglich, die 
Sitten des Volkes stünden dem auf das Allerentschiedenste entgegen. Aber 
hinsichtlich der Verfassung könne man sich doch nach und nach Über zwei Dinge 
verständigen, wenigstens in Deutschland: Über die Verwerfung des Absolutis- 
mus Rom's Über die Geister, in welchem nur schlechte Politik, aber keine 
Religion zu erkennen sei, Über die Verwerfung des Jefuitismus, und dann 
über das Verlangen einer würdigen Stellung für die Laien. Solle man bei 
diesen geringen Aussichten auf eine Vereinigung verzweifeln! Ganz und gar 
nicht! Der Boden, wo man sich am Schnellsten einigen könne, sei der schließ- 
lich entscheidende; nicht der des Dogmas, des Cultus, der Verfassung, sondern 
der der Moral und des Lebens. In Deutschland bestehe unter den gebildeten 
Classen, seien sie Protestanten, seien sie Katholiken, schon jetzt eine große Har- 
monie der Grundansichten. Man müsse dahin gelangen, nicht eine unmögliche 
formale Einheit zu erstreben, sondern das bisherige Kirchenprincip zu verwerfen 
und in das Gegentheil umzudrehen. Das Kirchenprincip laute: Wir allein 
sind im Besitz der absoluten Wahrheit, alle Anderen sind verdammt, welche 
die Wahrheit nicht kennen. In Zukunft aber solle jede Kirche sagen: Ich bin 
im Besitze der Wahrheit, ich weiß, daß jede Formulirung der Wahrheit nur 
relativ ist, nicht absolut. Jede Kirche solle die andere, wenn sie aufrichtig sei, 
gelten lassen. Auf diesem Boden allein sei eine wahre Verständigung möglich; 
dann möge jede auf ihrem eigenen Boden sich innerlich ausbilden, nicht uni- 
form, sondern verschieden, und es möchten dann die Kirchen Gastfreundschaft 
unter sich üben, wie die Altkatholiken gegenwärtig gegen Anglikaner, Russen 
und deutsche Protestanten. (Lauter Beifall.) Nachdem Prof. Bluntschli ge- 
endet, dankt ihm Präs. v. Schulte für die offene und mannhafte Art, mit 
der er seinen und der Protestanten Standpunkt von seinem Gesichtspunkte aus 
gekennzeichnet habe. „Ob wir alle damit üÜbereinstimmen oder nicht, darauf 
kann es nicht ankommen; es kann auch nicht darauf ankommen, ob wir die 
Ansicht haben, es sei eine Verständigung auf dem Gebiete des Dogma's, des 
Cultus, der Hierarchie in kürzerer oder längerer Zeit möglich; würde unsere 
Ansicht richtig sein, Sie würden dieselbe gewiß aus vollem Herzen acceptiren, 
denn je mehr Vereinigungspunkte vorhanden sind, desto stärker wird die Ver- 
einigung sein, und das bleibt jedenfalls richtig: wir find einig darin, daß wir 
verurtheilen jede Verdammungssucht, jeden Jefuitismus, und gewiß auch darin, 
daß wir so wohl wie Sie wünschen, daß, unbehindert von der Hierarchie, von 
jeder religiösen kirchlichen Unduldsamkeit, der Staat seine Aufgabe erfüllk, daß 
er die Menschheit nicht bloß in äußerer, bajonnetmäßiger Zucht halten, 
  
  
 
	        
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