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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
als eine muthige That, daß das Central-Komité ihn in seiner Eigenschaft als
Vorsitzenden des deutschen Protestanten-Vereins eingeladen habe, den Verhand-
lungen beizuwohnen. Er erkenne sehr wohl an, daß die Altkatholiken mit
Bezug auf Dogma, Cultus, Kirchenverfassung rc. der anglikanischen und der
russischen Kirche näher stünden, als der protestantischen deutschen. Trotzdem
bestehe ein viel lebhafteres Bedürfniß der Verständigung zwischen den deutschen
Katholiken und den deutschen Protestanten. In Deutschland habe der con-
fessionelle Zwiespalt Jahrhunderte lang das ganze Dasein erschüttert und ge-
fährdet, besonders in jenem verderblichen 30jährigen Kriege, welchen die Jesuiten
hervorgerufen und seine Beilegung so lange verhindert, dieselben Leute, die
gegenwärtig es wieder thäten, wenn sie die Macht dazu hätten. (Lebhafter
Baeilall) Seither habe man in Deutschland gelernt, daß es nicht möglich sei,
die confessionellen Dinge mit physischen Waffen zu erledigen, daß die Gegen-
sätze auch in den wichtigsten religiösen Dingen nebeneinander bestehen müßten,
weil keine Meinung stark genug sei, die anderen zu unterwerfen. Seines
Erachtens sei eine Verständigung, eine Wiedervereinigung auf dem Boden des
Dogma's unmöglich. Unter den Protestanten selber sei sie ja nicht einmal
möglich. Sie sei aber auch nicht nöthig. Das Licht sei nur Eines, aber es
erscheine in vielfach gebrochenem Farbenspiel. Auch mit Bezug auf den Cultus
und die Kirchenverfassung sei eine Vereinigung gegenwärtig nicht möglich, die
Sitten des Volkes stünden dem auf das Allerentschiedenste entgegen. Aber
hinsichtlich der Verfassung könne man sich doch nach und nach Über zwei Dinge
verständigen, wenigstens in Deutschland: Über die Verwerfung des Absolutis-
mus Rom's Über die Geister, in welchem nur schlechte Politik, aber keine
Religion zu erkennen sei, Über die Verwerfung des Jefuitismus, und dann
über das Verlangen einer würdigen Stellung für die Laien. Solle man bei
diesen geringen Aussichten auf eine Vereinigung verzweifeln! Ganz und gar
nicht! Der Boden, wo man sich am Schnellsten einigen könne, sei der schließ-
lich entscheidende; nicht der des Dogmas, des Cultus, der Verfassung, sondern
der der Moral und des Lebens. In Deutschland bestehe unter den gebildeten
Classen, seien sie Protestanten, seien sie Katholiken, schon jetzt eine große Har-
monie der Grundansichten. Man müsse dahin gelangen, nicht eine unmögliche
formale Einheit zu erstreben, sondern das bisherige Kirchenprincip zu verwerfen
und in das Gegentheil umzudrehen. Das Kirchenprincip laute: Wir allein
sind im Besitz der absoluten Wahrheit, alle Anderen sind verdammt, welche
die Wahrheit nicht kennen. In Zukunft aber solle jede Kirche sagen: Ich bin
im Besitze der Wahrheit, ich weiß, daß jede Formulirung der Wahrheit nur
relativ ist, nicht absolut. Jede Kirche solle die andere, wenn sie aufrichtig sei,
gelten lassen. Auf diesem Boden allein sei eine wahre Verständigung möglich;
dann möge jede auf ihrem eigenen Boden sich innerlich ausbilden, nicht uni-
form, sondern verschieden, und es möchten dann die Kirchen Gastfreundschaft
unter sich üben, wie die Altkatholiken gegenwärtig gegen Anglikaner, Russen
und deutsche Protestanten. (Lauter Beifall.) Nachdem Prof. Bluntschli ge-
endet, dankt ihm Präs. v. Schulte für die offene und mannhafte Art, mit
der er seinen und der Protestanten Standpunkt von seinem Gesichtspunkte aus
gekennzeichnet habe. „Ob wir alle damit üÜbereinstimmen oder nicht, darauf
kann es nicht ankommen; es kann auch nicht darauf ankommen, ob wir die
Ansicht haben, es sei eine Verständigung auf dem Gebiete des Dogma's, des
Cultus, der Hierarchie in kürzerer oder längerer Zeit möglich; würde unsere
Ansicht richtig sein, Sie würden dieselbe gewiß aus vollem Herzen acceptiren,
denn je mehr Vereinigungspunkte vorhanden sind, desto stärker wird die Ver-
einigung sein, und das bleibt jedenfalls richtig: wir find einig darin, daß wir
verurtheilen jede Verdammungssucht, jeden Jefuitismus, und gewiß auch darin,
daß wir so wohl wie Sie wünschen, daß, unbehindert von der Hierarchie, von
jeder religiösen kirchlichen Unduldsamkeit, der Staat seine Aufgabe erfüllk, daß
er die Menschheit nicht bloß in äußerer, bajonnetmäßiger Zucht halten,