Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 193
sondern daß er als ein sittliches Wesen, als die organische Verbindung der-
jenigen Personen, die ihm angehören, und dann durch einen positiven Act der
Kirche das Recht haben soll, alles das vorzunehmen, was das wahre Wohl
der Staatsbürger fördern kann; denn dadurch fördert er auch einzig und allein
das wahre Wohl der Confessionen und Kirchen und macht es möglich, daß wirklich
friedlich herrschen könne die Einheit in der christlichen Liebe.“ (Lebh. Bravol)
25.—27. Sept. Abhaltung des ersten allgemeinen deutschen Handwerker-
tages in Dresden. Derselbe erwirbt sich die allgemeine Anerkennung,
daß er, ohne unnütze Rückblicke und Bestrebungen nach Zuständen, die
unwiederbringlich hinter uns liegen, auf dem gegebenen Boden nur
das Mögliche practisch anstrebe.
Zu demselben haben sich fast aus ganz Deutschland Delegirte eingefunden,
zusammen 262, welche 63,221 selbstständige Handwerker vertreten. Nachgerade
haben sich die Folgen der modernen Gewerbegesetzgebung: gleichzeitiges Zer-
malmen des selbstständigen Handwerkerstandes durch Druck des Großcapitals
von oben und durch Unterwühlen Seitens der Socialdemokratie so empfindlich
geltend gemacht, daß die Bestrebungen der Arbeitgeber, welche nicht Fabrikan-
ten sind, sich zu organisiren, nicht mehr ignorirt werden können. Der wich-
tigste Punkt der ersten Berathung ist die Gründung einer Organisation der
„Arbeitgeber“ oder der „Handwerker". Einstimmig sind die Redner aller
Schattirungen darin, daß etwas geschehen müsse, um den schäumenden Wogen
der Socialdemokratie einen schützenden Damm entgegenzusetzen. Bürgermeister
Dr. Fischer aus Hainichen in Sachsen, einstimmig von den Handwerkern seiner
Stadt entsendet, bezeichnet diese Organisation des Handwerks als einen Act der
Nothwehr; in Bezug auf Organisation müsse man die Socialdemokraten
nachahmen. Auseinander gehen die Ansichten nur darüber: ob vorzugehen sei
mit Hilfe des Staats und der Gesetzgebung oder ohne Rücksichtnahme auf
dieselben und selbstständig. Buchdrucker Hauschild aus Bremen nennt es schmäh-
lich, wenn die Handwerker Deutschlands mit ihrem großen Capital, mit ihrer
Intelligenz und Arbeitskraft nicht den bodenlosen Umtrieben der Socialdemo-
kraten gewachsen wären. Auch andere norddeutsche Redner finden den Haupt-
übelstand der jetzigen Lage des Handwerkerstandes in dessen großem Indifferen-
tismus und verlangen von ihm ein kräftiges Sichaufraffen. Von den Regierungen
sei so wie so nichts zu erwarten. Tischler Todt aus Minden führt den
Standesgenossen zu Gemüthe, sie seien zwar jetzt noch Arbeitgeber, aber die
Entwicklung der gewerblichen Verhältnisse, die Uebermacht des Großcapitals
könne dahin drängen, daß diese Meister hier, welche jetzt die Blüthe des Hand-
werkerstandes verträten, auch wieder in die Reihen der Arbeitnehmer herab-
sänken. Seit 2 Jahren habe sich die Zahl der selbstständigen Handwerker um
5 Proc. vermindert. Man dürfe nicht fortfahren, den Handwerkerstand, diese
Säule des Staats, noch ferner zu erschüttern. Kein Stand im Staate sei
jetzt so vogelfrei, wie der Handwerker; der Handel, die Industrie u. s. w.
genössen alle Staatsunterstützung und Förderung. Im Allgemeinen neigt sich,
wie auch aus der Rede des Referenten, Tischlers Brandes aus Berlin, hervor-
geht, die Stimmung der Mehrzahl dahin, das Coalitionsrecht nicht etwa zu
beschränken, sondern innerhalb der Schranken der Gewerbeordnung weiter aus-
zubauen und durch Organisation der selbstständigen Arbeiter eine Reform der
Gewerbeordnung, jedoch nicht in reactionärem Sinne, anzustreben. Die Ver-
sammlung bestimmt Berlin zum Hauptvorort, gibt sich in einem Ausschuß von
9 Mitgliedern sein Haupt und beschließt die Gründung einer Handwerkerzeitung.
Der Hauptvorort wird in den einzelnen Bundesstaaten Vororte wählen, welche
die Bildung von Localvereinen in die Hand zu nehmen und zu organisiren
haben. Vier Mitglieder des Ausschusses ernennt Berlin, fünf jeweils der
Handwerkertag. Gegen die Wahl Berlins macht sich einige Opposition geltend;
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