Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

194 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
man fürchlet anfänglich, daß dort nicht die nöthigen Kräfte vorhanden seien, 
um im Geiste des Handwerkerstandes dessen Sache zu vertreten; doch zerstreut 
das Auftreten der Berliner, die sich von jeder Dominirungssucht frei halten 
und ein reges Interesse für Hebung des Handwerkerstandes documentiren, bald 
die gehegten Befürchtungen. Als die tüchtigste Kraft des Handwerkertags 
zeigt sich der Drechslermeister Todt aus Minden. Er beweist ein klares 
Verständniß für die Lage des Handwerkerstandes, warnt vor der Vertrauens- 
duselei gegenüber den Regierungen, die jetzt noch viel zu viel unter dem Ein- 
flusse des liberalisirenden Großcapitals stünden und durch dessen Begünstigung 
am Meisten dazu beitrügen, den Mittelstand in Deutschland zu untergraben. 
Er erklärt: daß das Großcapital der schlimmste Feind des mittleren Hand- 
werkerstandes sei und dasselbe unrettbar der Socialdemokratie in die Arme 
treibe. Das Großcapital trachte dahin, dem Meister, der nech jetzt 3—4 
Gesellen beschäftige, diese zu entziehen, um sie in seine Fabriken überzuführen. 
Anerkannt muß werden, daß sich der Handwerker-Congreß von jeder Reaction 
innerhalb der Gewerbeordnung im zünftlerischen Sinne freihält. Dieß tritt 
namentlich bei der Frage der Einführung der Arbeitsbücher hervor. Alle 
Redner bezeugen es, daß diese Arbeits= oder Controlbücher das A und O 
jeder Neugeburt des Handwerkerstandes seien, daß mit ihrer Einführung der- 
selbe stehe und falle. Nur in der Voraussetzung, daß der Handwerkertag sich 
für diese Controlbücher erkläre, sei er von einigen 60,000 Handwerkern beschickt 
worden. Billing aus München und alle Redner erklären jedoch ausdrücklich, 
daß nicht daran gedacht werden solle, die veralteten Wanderbücher aus ihrem 
Staube hervorzusuchen. Wolle man aber die jetzt ganz außer Nand und 
Band gerathenen Handwerksverhältnisse wieder neu ordnen, wolle man das 
Weglaufen aus der Arbeit u. s. w. verhindern, so sei es unerläßlich, gesetzlich 
zu bestimmen, daß jeder Handwerksgehilfe ein solches Controlbuch führe, worin 
weiter nichts als der Ort, wo er zuletzt gearbeitet, und die Dauer seiner 
Arbeit eingetragen werde. Der Mangel eines solchen Controlbuchs soll dem 
Gehilfen wie dem Meister, bei dem er in Arbeit tritt, Strafe zuziehen. In 
diesem Sinne nimmt man eine Resolution an und fügt auf Billing's Vor- 
schlag hinzu, daß bis zur reichsgesetzlichen Regelung dieser Frage die Ein- 
führung der Controlbücher auf dem Wege der Selbsthilfe angestrebt werden 
soll. Nur die Vertreter Bremen's sprechen sich gegen die Regelung dieser 
Sache auf dem Gesetzgebungswege aus; sie wollen einfache Selbsthilsfe. Dem 
Jubel, mit welchem die Resolution gefaßt wird, merkt man es an, daß der 
Handwerkertag der Ueberzeugung ist, es sei mit seinem Beschlusse der erste 
Schritt zu befriedigenderen gewerblichen Verhältnissen geschehen. Außerdem 
beschließt die Versammlung noch die Errichtung selbstständiger Gewerbekammern 
in denjenigen Staaten, wo sie noch nicht bestehen. Der wichtigste Beschluß der 
dritten Sitzung betrifft das Lehrlingswesen, dessen schädliche Gestaltung von 
Rednern aus allen Theilen Deutschland anerkannt wird. Besonders wird ge- 
klagt, daß die Meister jetzt so gut wie gar kein Mittel in Händen hätten, um 
die Lehrlinge zum Aushalten in der Lehrzeit zu zwingen. Ein Contract 
schütze deßhalb nicht, weil in nceuerer Zeit meist nur noch Söhne unbemittelter 
Eltern zum Handwerke gingen, gegen arme Leute aber Geldstrafen wegen 
eigenmächtigen Verlassens der Lehre durch ihre Söhne nicht vollstreckbar seien. 
Man fühlt sich namentlich dadurch gedrückt, daß die Lehrlinge oft nur so 
lange in der Lehre aushielten, bis sie Handfertigkeit genug erlangt hätten, 
umallenfalls als Fabrikarbeiter sich fortzuhelfen. Die Mehrheit entscheidet 
sich für Wiedereinführung von Lehrlingsprüfungen und Anfertigung eines 
Gesellenstückes, hingegen verwirft sie Meisterprüfungen; die Minorität, geführt 
von den Bremensern und dem Münchener Magistratsrath Billing, hatte die 
Ausstellung von freiwilligen Lehrlingsarbeiten und die Prämiirung der besten 
derselben empfohlen. Der Centralausschuß soll ausführliche Vorschläge wegen 
Wiedereinführung der Prüfungen und wegen Wiederherstellung festerer Be- 
 
	        
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