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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glleder.
den am 2. März 1871 in Elsaß-Lothringen wohnhaft gewesenen Fran-
zosen ca. 1200 nach Frankreich zurückgekehrt sind. Sämmtliche Op-
tanten, welche nicht thatsächlich ausgewandert sind, erhalten die amtliche
Benachrichtigung, daß „ihre Option ungiltig sei und bleibe".
2. Okt. Versammlung des deutschen Protestantentages. Derselbe beschließt
einstimmig eine vom Ausschuß ihm vorgelegte Erklärung in der Bekennt-
nißfrage, nachdem dieselbe von den Berichterstattern Professor Räbiger
aus Breslau und Professor Lipsius aus Jena begründet worden ist.
Die Stimmung auch dieser Versammlung ist gegenüber den Gegnern
möglichst versöhnlich und nicht exclusiv.
Erklärung: „Alle kirchlichen Lehrformeln sind menschliche Satzungen.
Trotzdem sind die hergebrachten Bekenntnißschriften zur Bedingung der Seligkeit
und der Zugehörigkeit zur Kirche und damit zu kirchengesetzlicher Geltung er-
hoben worden. Dies ist ein entschiedener Abfall von den Grundsätzen der Refor-
mation und eine Verletzung des Rechtsbestandes der evangelischen Kirche. 2) Der
christlichen Frömmigkeit und der theologischen Wissenschaft wird dadurch ein
unchristlicher Zwang auferlegt. Dieser Zwang schädigt den sittlichen Einfluß
des Christenthums und entfremdet einen großen Theil des deutschen Volkes
der Kirche. Er ist um so verwerflicher, als alle, auch die sogenannten be-
kenntnißtreuen Theologen erwiesenermaßen wesentliche Abweichungen von dem
ursprünglichen Sinn der Bekenntnißschriften sich gestatten. 3) Unter Berufung
auf seine Beschlüsse von Eisenach, Berlin und Darmstadt, erklärt daher der
deutsche Protestantenverein: 1) Der alleinige Grund der evangelischen Kirche
ist Christi Person, seine Lehre und sein Werk. Das einzige Merkmal des
Christen ist die Aufnahme des Evangeliums von Christo in freier Ueberzeugung
und ihre Bethätigung durch die Liebe. 2) Die nothwendigen, aber auch allein
zulässigen Schranken der evangelischen Freiheit ergeben sich aus der gewissen-
haften Anwendung dieser christlich-evangelischen Grundsätze. 4) Demgemäß
fordert der deutsche Protestantenverein zur Wahrung der evangelischen Be-
kenntnißfreiheit insbesondere: 1) Wegfall der Deklarationen Über lutherischen
oder reformirten Bekenntnißstand einzelner Gemeinden und ganzer Kirchen-
körper. 2) Aufhebung der eidlichen Verpflichtung der Geistlichen, Kirchenvor-
steher und Synodalmitglieder auf die Bekenntnißschristen und Ersetzung der-
selben durch ein einfaches Gelöbniß der Treue gegen die vorher Wt
evangelischen Grundsätze. 3) Einführung von Parallelformularen bei Taufe,
Confirmation, Abendmahl und anderen kirchlichen Handlungen zur Befrie-
digung der verschiedenen in den evangrlischen Gemeinden vorhandenen religiösen
Bedürfnisse.“ Der Referent Prof. Raebiger bezeichnet die vorliegende Frage
der Bekenntniffreiheit als eine der dringlichsten kirchlichen Fragen. Es handle
sich in derselben nicht um ein theoretisches, sondern um ein praktisches Problem,
in dessen Lösung sich mit den kirchlichen die verschiedensten politischen und so-
cialen Interessen durchkreuzten. In dem gegenwärtigen Uebergangsstadium
handle es sich um die Auseinandersetzung des alten Kirchenthums mit dem
modernen Culturleben. Die katholische Kirche habe zum Schugz ihres alten
Glaubens gegen jede Unbill des Zeitgeistes das Unfehlbarkeitsdogma aufge-
stellt, aber dadurch energischen Widerspruch wach gerufen. Aehnlich lägen
die Verhältnisse in der protestantischen Kirche, wo die kirchliche Reaktion vom
Protestantenverein bekämpft werde, indem er vor Allem gegen die Bekenntnisse
protestirte, nicht als Gegner aller Dogmen, sondern weil er in dem Dogma-
tismus den beklagenswerthesten Abfall vom ursprünglichen Christenthum als
der Religion des Geistes erkenne. Das Christenthum habe die Gewissensfrei-
heit sanktionirt, wie sie im Anfange thatsächlich auch gelibt wurde. In dem
Kampfe gegen Juden= und Heidenthum entwickelte sich allmälig eine christliche