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Das deutsche Reich und seine einzelnen Slieder.
plinarisch strafen, denselben die Kirchen für ihren Gottesdienst verweigern ze.
Der Dogmatismus sucht jetzt, seitdem die Verbindung der staatlichen und
kirchlichen Reaktion sich zu lösen beginnt, seine Stellung hinter seinen eigenen
Satzungen zu sichern, ohne jedoch eine andere Autorität zu besitzen, als die
der Tradition, nicht aber die allein protestantische Berechtigung der Wahrheit.
Und auch die bekenntnißtreuen Orthodoxen sind thatsächlich von dem alten
lutherischen Symbol abgefallen, dem gleichwohl die Union zum Opfer ge-
bracht werden soll. Redner geht weiter auf die Tendenzen des Orthodoxismus
ein, die auf Grund der protestantischen Principien bekämpft werden müssen;
deßhalb protestirt der Protestantenverein gegen die Bekenntnisse, indem er auf
dem kirchlichen Boden der Union steht. Wenn menschlich betrachtet die Spal-
tung der protestantischen Kirche zu beklagen war, so brach sie doch die Macht
des Dogmas und es bedarf bei dem reformatorischen Geist unserer Zeit nur
der Vereinigung aller seiner Gegner, um den Dogmatismus vollends zu Fall
zu bringen. Aber der Protestantenverein will nicht nur niederreißen, sondern
auch aufbauen; er strebt auf dem Grunde des Evangeliums die Erneuerung
der christlichen Kirche an: er verwirft mit den dogmatischen Bekenntnissen nicht
das Bekennen selbst, nicht jedes Bekenntniß, es fragt sich nur, wie daselbe
beschaffen sein soll. Die Autorität eines Bekenntnisses, das auf freie Zustim-
mung und Ueberzeugung begründet ist, betrachtet der Protestantenverein nicht
als ein geistiges Joch, und in der That wissen die Mitglieder des Protestan-
tenvereins sich eins in dem Bekenntniß von Christus, dem gottgesandten Mittler,
das sich am leichtesten an das apostolische Bekenntniß anschließen würde. Das
kirchliche Bekenntniß muß ein Bekenntniß für die Gemeinde sein, das in deren
Geist und Herz seine Stätte hat und deren Leben bestimmt. Auf Grund eines
solchen Bekenntnisses will der Protestantenverein an die Stelle des Dogma-
tismus eine wirkliche evangelische Volkskirche gesetzt wissen, ohne ein neues
Kirchenthum aufrichten zu wollen, sondern in Bethätigung des eigensten Prin-
cips des Protestantismus. Die Dogmen sollen der theologischen Wissenschaft
verbleiben, um von ihr geprüft und schriftgemäß begründet zu werden. Die
persönliche Ueberzeugung, welche sich für die Bekenntnisse belennt, bekämpft
der Protestantenverein nicht, wohl aber die für letztern beanspruchte Zwangs-
herrschaft. Die Lehrfreiheit anlangend gesteht er der Kirche das Recht zu,
von ihren Predigern ein Gelöbniß zu fordern, nicht aber eine eidliche Ver-
pflichtung auf die Bekenntnisse; für die Gemeinde nimmt er die Betheiligung
an Ordnung ihrer Angelegenheiten durch geeignete Organe in Anspruch. Die
evangelische Kirche muß sich vor allem angelegen sein lassen, miltelst ihrer
Organe alle die Thätigkeiteu zu Üben, die ihr durch die christliche Liebe ge-
boten 8 Das Kirchenthum, wie es der Protestantenverein in der Volks-
kirche schaffen will, ist mit dem Rechtsstaat wohl vereinbar. Die kirchliche
Zerrissenheit Deutschlands kann nicht mit einem Schlage durch eine allgemeine
deutche Nationalkirche ersetzt werden, aber der Protestantenverein sieht mit der
Hoffnung in die Zukunft, daß allmälig, je mehr der Dogmatismus sich über-
lebt und zerfällt, das deutsche Volk, wie es sich politisch geeinigt hat, bei seiner
Bildung auch in der, vom Protestantenverein geforderten Volkskirche sich zu-
sammenfinden und aller Zwist sich lösen wird in dem gemeinsamen Bekennt-
niß: „Nur Einer ist unser Meister, Christus, wir aber sind alle Brüder.“
Prof. Lipsius, als zweiter Referent Über die Bekenntnißfrage, will zu einer
Verständigung über die praktischen Ziele des Protestantenvereins beitragen,
ohne Hoffnung freilich, eine solche auch mit den eigentlichen Confessionellen zu
erzielen, z. B. „dem welfischen Consistorium der kgl. preußischen Provinz Han-
nover“ und der Firma „Kliesoth und Comp.", aber doch z. B. mit der theo-
logischen Fakultät Halle und dem Kirchentage unter Vorsitz eines Hermann.
Diese Verständigung müsse erfolgen im Wege der Anerkennung des Rechtes,
der Gleichberechtigung der liberalen Elemente in der evangelischen Kirche
neben den Orthodoxen, nicht der Vorherrschaft oder gar der Alleinherrschaft