Das deutsche Reich und seine elnjelnen Glieder. 203
der Einen oder der Andern. Man halte jenen vor, wenn sie sich mit dem
Bekenniniß der lutherischen Kirche nicht in Uebereinstimmung wüßten, bleibe
ihnen nichts Üübrig, als aus derselben auszuscheiden, widrigenfalls die auf
dasselbe vereideten Geistlichen ihr Gelöbniß mit Füßen treten. Aber der Maß-
stab, mit dem die Gegner des Protestantenvereins dessen Anhänger mäßen, sei
unanwendbar. Eine Verpflichtung auf die Bekenntnisse sei weder vom evan-
gelischen Standpunkt aus zulässig, noch aus der Geschichte zu vertheidigen, oder
mit den sittlichen Aufgaben der Gegenwart vereinbar. Freilich betrachte die
orthodoxe Partei die Bekenntnisse als Gesetz, nicht als menschliches, sondern
als göttliches Gesetz, aber das sei katholisch. Dasselbe Recht, das die Refor-
mation gegenüber den Anschauungen des Mittelalters geübt, das nehme auch
der Protestantenverein in Bezug auf die Bekenntnisschriften in Anspruch.
Freilich, nach katholischer Ansicht ist jeder Abfall vom Bekenntniß ein Abfall
von der Kirche selbst, aber das widerspricht eben dem ganzen Charakter der
Reformation. Andererseits ist allerdings die Lehre unserer Kirche in den Be-
kenninißschriften niedergelegt, aber es fragt sich, ob ihr Inhalt ein Gut ist.
Ferner ist die buchstäbliche Verpflichtung auf die Bekenntnißschriften nicht bloß
nach den eigensten Grundsätzen der Reformation, sondern sie ist auch geschicht-
lich unmöglich. Eine freiere Auffassung derselben war das nothwendige Er-
zeugniß der geschichtlichen Entwicklung. Soll man jetzt wieder zurückgehen
auf die Lehren des 16. Jahrhunderts! Wenn man sieht, wie die Führer
der sogenannten rechtgläubigen Partei selbst Umformungen auf allen Seiten
unternehmen, so begreift man, daß buchstäbliches Festhalten eine geschichtliche
Unmöglichkeit ist. Und wenn nicht einmal die Confessionellen einig sind, wie
will man es dem Protestantenverein wehren, den Inhalt der Bekenntnißschrif-
ten nach seinen Grundsätzen zu bestimmen?! Auch die heilige Schrift als solche
kann die Grenzen der evangelischen Lehrfrelheit nicht ohne weiteres bestimmen.
Was die redliche Forschung auch in der Schrift als menschliche, nicht göttliche
Wahrheit erkennen muß, daran darf man das Gewissen nicht binden wollen.
Wir werden dadurch beschränkt auf die in der Schrift niedergelegten Grund-
wahrheiten und Grundthatsachen. Die supernaturalistische Anschauung vol-
lends kann ebensowenig maßgebend sein, denn diese Anschauung theilt das
Christenthum mit anderen Religionen und darin kann doch nicht ihr Wesen
liegen. Zum Schluß wirft Redner einen Blick auf das Streben der freien
Theologie nach Gleichberechtigung und bezeichnet die Aechtung und Verdam-
mung dieser Grundsätze als einen Bruch mit der gesammten religiösen Ent-
wicklung unseres Volkes, der zur Auflösung der großen Kirchengemeinschaften
in Sekten führen müsse. Wenn die Kirche die religiöse Entwickelung eines
Volkes repräsentiren solle, so müsse man die Bekenntnißkirche sahren lassen
und dafür die Volkskirche wählen. Dabei entwickelt Redner im Einzelnen die
Hauptgrundsätze einer solchen Kirche, wie sie die freie Theologie vertheidigt
und kullpft daran praktische Folgerungen, die sich hieraus ergeben und sich
auf § 4 der Erklärung beziehen.
2. Okt. (Bayern.) Eine Versammlung der Delegirten des „liberalen
Kreisvereins für Oberbayern“ spricht unter dem Vorsitze des Reichs-
und Landtagsabgeordneten Frhrn. v. Stauffenberg ihre Ueberzeugung
dahin aus, daß für Bayern zunächst die Durchführung nachstehender
Reformen anzustreben sei:
„I. Zum Gebiete des Unterrichtswesens: 1) Neorganisation der Lehrer-
bildungsanstalten unter Beseitigung der geistlichen Leitung, Errichtung höherer
Lehrerbildungsanstalten (Pädagogien). 2) Fachmännische Leitung des gesamm-
ten Unterrichtswesen in allen Instanzen; Theilnahme der Lehrer an der Schul--
verwaltung. 3) Ein den Leistungen und der Bildungsstufe entsprechender
Einfluß der Gemeinden auf die Volksschulen. 4) Beseitigung des confessionellen