214
Has deutsche Reich und seine tinzelnen Glieder.
die Kreisstände zu reorganisiren. Ich muß den Vorwurf, als ob die Regie-
rung bei diesem ganzen procedere kein anderes Motiv gehabt habe, als
liberalen Parteien Raum zu gewähren, absolut zurückweisen. Nicht liberalen
Parteien wollen wir Raum geben, sondern Anschauungen, die in eciner Zeit
sich gebildet haben, in der die Weltgeschichte, wie in den letzten zehn Jahren,
ein ganz anderes Gesicht bekommen hat. Wenn wir Maßregeln vorschlagen,
die den Anschauungen dieses Haufes liberal erscheinen, so sind wir nicht liberal
geworden, sondern bilden uns ein, erst recht conservativ zu sein, indem wir
die nothwendigen Verbesserungen zur richtigen Zeit und in der richtigen Form
zur Anwendung bringen. Sie sagen: wir gehen gegen die alten Kreistage
jetzt vor, wo die Tage ruhig sind; wir wülrden sic noch einst vermissen! Sie
haben in dem Conflict einen guten Dienst geleistet, und wenn ein Conflict
wiederkommt, so werden wir noch nach ihnen rufen. M. H., der Conflict —
war er denn ein Streit, dessen Folge weiter nichts ist, als daß der Besiegte
nach Revanche schreit? Ich glaube nicht. Ich glaube, der Conflict war ein
Läuterungsproceß für alle Parteien, und allen Parteien werden daraus Vor-
theile erwachsen und sind ihnen erwachsen. Gerade auf dem Boden dessen, was
wir während der Conflictszeit gelernt haben, ist eine Reihe der Gesetze entstanden,
die in den letzten sechs oder acht Jahren emanirt worden sind. Allerdings
entwickelt sich fast über jeder Gesetzgebung, die liberalere Anschauungen zur
Geltung bringt, eine gewisse radicale Atmosphäre. Gerade in den Ausführungs-
perioden liegt die ganze Schwierigkeit. Aber seien Sie sicher, sie ist vorüber-
gehend. Verzweifeln Sie darum nicht, haben Sie mehr Muth, als Sie zu
haben scheinen Sie vertheidigen bisher Besessenes als gut und wollen sich
dem Besseren verschließen; Sie haben den Muth nicht, Sie haben das Zu-
trauen nicht zu der Bevölkerung, welches die Regierung hat. Mit denselben
Gefühlen haben wir gekämpft, als wir in den Krieg gingen. Wir sind nicht
siegesgewiß gewesen, wir haben die Mäöglichkeit eines argen Neverses voraus-
gesehen. Aber wir hatten die Ueberzeugung, daß wir, wenn einmal geschlagen,
uns desto glorreicher wieder erheben würden. So wollen wir es auch jet
machen! Versuchen Sie es nur einmal mit der Kreisordnung! Damit
schließt die Generaldebatte. Nach Schluß der Specialdebatte und vor der
Schlußabstimmung erklärt der Minister Graf Eulenburg: Sie werden
jetzt zu beschließen haben, ob die nun im einzelnen angenommene Vorlage der
Commission im Ganzen als beseitigt angesehen werden soll oder nicht. Wenn
Sie die Gesetzvorlage im Ganzen verwerfen, so ist sie dadurch für diese Session
beseitigt und kann nicht mehr in dieses Hauses gebracht werden. Fällt Ihr
Beschluß so aus, so würde unter anderen Verhältnissen vielleicht die Dimission
des Ministeriums, speciell desienigen Ministers, der mit der Führung dieser
Angelegenheit betraut wurde, die Folge sein. Sie werden uns zutrauen, daß
wir, wenn wir irgend eine Förderung der Sache darin erkennen könnten, keinen
Augenblick Anstand nehmen würden, unsere Dimission zu den Füßen Sr.
Majestät niederzulegen. Allein die Sache steht in diesem Falle anders.
Se. Majestät hat sich überzeugt, daß das Zustandekommen einer auf den
Principien der Regierungsvorlage beruhenden Kreisordnung eine Nothwendig-
keit ist, und in dieser Ueberzeugung werden Sie jedem neuen Ministerium
ganz dieselbe Aufgabe stellen, die uns obgelegen hat. Wenn Sie den Beschluß
fassen, die Vorlage abzulehnen, so wird die Session unmittelbar geschlossen
und eine neue Session einberufen werden, in welcher die Kreisordnung zu den
ersten Vorlagen gehören wird. Wir sind von der Nothwendigkeit der Durch-
führung derselben im Einverständniß und mit voller Zustimmung Sr. Majestät
so Überzeugt, daß wir diese Aufgabe nicht fallen lassen, sondern versuchen
werden, sie zu erreichen durch alle Mittel, welche die Verfassung uns gewährt.
v. Kleist-Retzow: Die Worte des Herrn Ministers nöthigen mich meiner-
seits zu einer Erklärung: Es wird nun geradezu erklärt: wenn das Haus
nicht unbedingt das annimmt, was man ihm vorlegt, so sollen alle Mittel