Das deutsche Reich und seine einzelnen Elieder. 227
v. Erdmannsdorf: daß aus allen liberalen Gesetzvorlagen nichts werden würde,
wenn man nicht den confessionellen Charakter der Volksschule acceptire, als
eine unerhörte Provocation bezeichnet, betont zuletzt die gegen die Reichsgesetz-
gebung gerichtete Tendenz des Gesetzes. Die sächsische Regierung, meint er,
ignorire überhaupt geflissentlich alles, was im Reich passire, und der Landtag
untergrabe durch sein Verfahren das wenige an Macht, was uns das Reich
noch gelassen. Aus der Mitte der Kammer werden diese Bedenken von dem Vice-
präsidenten Streit und dem Referenten bekämpft. Letzterer, Prof. Biedermann,
findet sie durch den Gewinn mindestens aufgewogen, der aus der mit der Errich-
tung des Landesconsistoriums zum Abschluß gelangenden Durchführung des
großen Princips der Trennung von Kirche und Staat für beide Theile er-
wachsen werde. Streit macht der Befürchtung gegenüber, daß mit diesem
Gesetze die staatliche Gesetzgebung sich jedes Einflusses auf die evangelisch-luthe-
rische Kirche begebe, geltend, daß der Staat nach wie vor die Hand auf dem
Geldbeutel halte: er werde nie seine Zustimmung dazu ertheilen, daß dem
Kirchenregiment und der Synode ein Besteuerungsrecht eingeräumt werde.
Cultusminister v. Gerber gibt auf Anregung des Vicepräsidenten die
Erklärung ab, daß das vorliegende Publicationsgesetz in keiner Weise den
Charakter eines Concordats zwischen Kirche und Staat tragen solle, so daß
die staatliche Gesetzgebung an dessen Abänderung oder Aufhebung behindert
wäre, daß das Kirchengesetz, um dessen Publication es sich handle, auch von
der Regierung nicht als Gesetz im verfassungsmäßigen Sinne betrachtet werde,
und daß dasselbe nur auf Personen und Anstalten der evangelisch-lutherischen
Kirche sich beziehe. Gegen die Ausführungen des Abg. Ludwig wendet sich
der Cultusminister in einem längern, von der Rechten mit lebhaftem Beifall
ausgenommenen Vortrage, in welchem er die durch die neueste Gesetzgebung
vollzogene und in der Errichtung des Landesconsistoriums gipfelnde Loslösung
der Kirche, ihres Regiments und ihrer Verwaltung aus der Verquickung mit
dem staatlichen Organismus als den nothwendigen Abschluß einer langen und
stetigen Entwickelung schildert. Uebrigens wird auf Antrag des Abg. Lud-
wig, obwohl der Cultusminister dringend von der Annahme desselben
abräth, beschlossen, der Regierung zu erklären, daß die von ihr mit der Synode
zu treffende Vereinbarung über die Art der Ausllbung des Aufsichtsrechts der
Kirche über den Religionsunterricht die Genehmigung der Stände bedürfe.
In der Presse wird mehrfach hervorgehoben, daß Sachsen mit diesem Ge-
setz einen Weg betrete, den Preußen, nachdem er dort 20 Jahre lang zu nichts
Gutem geführt, eben jetzt wieder unter den größten Schwierigkeiten und den
heftigsten Kämpfen verlasse.
19. Nov. (Sachsen.) II. Kammer: verwirft die Regierungsvorlage für
Steuerreform mit allen gegen nur 4 Stimmen.
Der vom Abg. Gensel ausgearbeitete Bericht zeichnet sich durch Klarheit
und Gründlichkeit aus. Die Kammerverhandlung selbst bietet das seltsame
Schauspiel, daß alle sonstigen Parteiunterschiede verschwunden sind, und sich
statt dessen neue Allianzen und neue Gegensätze bilden. Der Finanzmini-
ster tritt sogleich mit der Erklärung hervor, daß die Regierung nichts dagegen
habe, wenn — ihre Vorlage abgelehnt würde. Sie habe endlich einmal einen
positiven Vorschlag machen wollen. Am liebsten hätte er das preußische System,
eine contingentirte Grund= und Gewerbesteuer, und als Ergänzung eine Classen-
und Gewerbesteuer vorgeschlagen. Da er aber dafür, wenigstens nach früheren
Verhandlungen zu urtheilen, keine Aussicht auf Erfolg gehabt, so schlage er
eben die Ertragssteuer vor. Die gänzliche Ablehnung der Grundsteuer, des
Chausseegeldes, der Stempelsteuer 2c. würde mehr schaden als nützen, denn das
Großcapital treibe man damit aus dem Lande. Uebrigens verweise er auf
Preußen, wo man sich wohl gehütet habe, eine Progression einzuführen. Der
Ansicht des Ministers entgegen betonen Günther und Rentsch, hiert
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