Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
welch gewaltiges Gewicht sie darauf legt, daß sie die Schulaufsicht in ihrer 
Hand habe und wirksam üben könne. Hat man nun wohl die Bürgschaft, 
daß den Ordensangehörigen gegenüber die Schulaufsicht in der Wirksamkeit 
geübt werden kann, die nöthig ist Ich habe alle diese Fragen nicht bejahen 
können, ich habe mir vergegenwärtigt, daß ein feierliches Gelübde die betresfen- 
den Personen an ihre Gemeinsamkeit bindet, sie bindet zum unbedingten Ge- 
horsam gegen die Oberen, und manche Obere sind nicht einmal Angehörige 
dieses Staates, haben nicht aus unmittelbarem Mitleben ein rechtes Verständ= 
niß für das Wesen dieses Staates. Andere Obere nehmen für sich das Recht 
in Anspruch, zu entscheiden, wie weit sie den Staatsgesetzen unterwürfig seien, 
und andere — die Zeiten haben es allmählich vorbereitet, aber jener Beschluß 
vom Jahre 1870 hat es abgeschlossen — haben die hervorragende Freihäit 
und Selbständigkeit im Lande nicht mehr, die sie vorher besessen. Auf Per- 
sonen, die durch Gelübde derartigen Oberen unterworfen sind, hat der Staat 
geringen Einfluß, sein Lob und sein Tadel ist von untergeordneter Bedeutung, 
eine wirkungsvolle Aufssicht ist da nicht zu üben. Was ich in Bezug auf die 
Abhängigkeit sage, gilt nicht bloß von denen, die einem eigentlichen Orden, 
sondern auch von denen, die den Congregationen mit zeitlichen Gelübden ange- 
hören. Ich finde da einen materiellen Unterschicd nicht, denn das Gelübde ist 
niemals unerneuert geblieben, um den Beruf der Lehrerin weiter zu führen. 
Wie abhängig die Personen sind, wie ihre ganze eigene Persönlichkeit in diesem 
Verhältniß verloren geht, das zeigen die bezüglichen Verträge. Dieselben 
stellen Üübereinstimmend in der Rheinprovinz, in Westphalen, Preußen, Schle- 
sien Sätze auf, wonach der Vertrag nicht mit der einzelnen Person, nein 
mit der Oberin oder der Genossenschaft geschlossen ist. Die Oberin erwählt 
und beruft nach ihrem freien Ermessen. Es heißt (es ist das ein niedriger 
Ausdruck, aber er steht wörtlich in den Verträgen): Die Genossenschaft stellt 
die Lehrer. In allen äußeren Beziehungen werden die Angelegenheiten von 
dem Pfarrer als Stellvertreter der Oberin geleitet. Ueberall sehen Sie An- 
fänge klösterlicher Einrichtungen, und diese wachsen, denn nach den Verträgen 
soll jede Vacanz wieder besetzt werden mit solchen Schwestern. Ein Vertrag 
ist mir vorgelegt worden, der mich auf den Gedanken geführt hat'“ mich zu 
fragen: handelt es sich hier noch um eine öffentliche Schule oder vielmehr 
um eine rein kirchliche Anstalt, die auch hineingreift in die zweifellosen Ge- 
biete der Staatsgewalt. (Redner verliest das betreffende Aktenstück.) Dieß 
ist auch meinem Herrn Amtsvorgänger nicht unbekannt gewesen; anch er hat 
schon, nicht lange bevor er aus dem Amte schied, sich die Frage ernstlich vor- 
gelegt, ob es möglich sei, in diesen Zuständen weiter zu verharren, und einer 
Regierung gegenüber ausgesprochen, daß unter keinen Umständen mehr ein 
Vertrag zugelassen werden werde, der Bestimmungen gewisser Art enthalte. 
Bei der dann durch mich fortgesetzten Prüfung der Frage bin ich allerdings 
von anderen Gesichtspunkten geleitet worden als mein Amtsvorgänger und 
insbesondere auch der Minister v. Bethmann-Hollweg, dessen Reskript hier ver- 
lesen worden ist. Ich mache kein Hehl daraus und srreche meine Ueberzeugung 
dahin aus, daß zu einem guten Theil die Staatsregierung selbst schuld an 
diesen Zuständen ist, und ich will mich dieser Verschuldung nicht auch theil- 
haftig machen. Ich bin der Meinung geworden, es müsse ein Schritt gethan 
werden, der nicht bloß ein Scheinschritt ist, ein halbes Verfahren enthält. 
Eine allgemeine Verfügung, wie sie Hr. v. Mllhler an eine spezielle Regierung 
erlassen, wäre leicht zu umgehen gewesen. Nur eine durchgreifende Verfügung 
konnte helfen. So lange Sie die Schulschwestern zulassen, wandeln Sie den 
Geist, welchen ich vorhin skizzirt habe, niemals. Das sind die Gründe, die 
mich, selbst abgesehen von den augenblicklichen Verhältnissen, dahin geführt 
haben, diese Verfügung zu erlassen. Aber was sonst noch in Betracht kam, 
war dieses: Es ist gar nicht zu verkennen, daß ein stetiges Wachsen der Orden 
und Ordensstationen vorhanden ist. Im Jahre 1869 existirten in Preußen
	        
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