Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

38 Das deutsche Reich und seine einzelnen Slieder. 
15. Jan. (Württemberg.) Die I. Kammer ertheilt dem von der II. Kam- 
mer schon im Juli v. Is. angenommenen Gesetzesentwurf, betr. die 
religiösen Dissidentenvereine, im Wesentlichen anstandslos ihre Zustim- 
mung. 
Er besteht aus einem einzigen Artikel: „Die Bildung religiöser Vereine 
außerhalb der vom Staate als öffentliche Körperschaften anerkannten Kirchen 
ist von einer staatlichen Genehmigung unabhängig. Es steht diesen Vereinen 
das Recht der freien gemeinsamen Religionsübung im häuslichen und öffent- 
lichen Gottesdienst, sowie der selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer 
Angelegenheiten zu. Dieselben dürfen jedoch nach ihrem Bekenntniß, ihrer 
Verfassung oder ihrer Wirksamkeit mit den Geboten der Sittlichkeit oder mit 
der öffentlichen Rechtsordnung nicht in Widerspruch stehen.“ Auf Antrag der 
Commission wurde noch als zweiter Artikel beigefügt: „Ob und unter welchen 
Voraussetzungen den Mitgliedern solcher religiöser Vereine an Stelle des Eides 
der Gebrauch einer andern Betheuerungsformel gestattet sei, ist Gegenstand der 
Verordnung.“ Eine Disfserenz zwischen den Anschauungen beider Kammern 
ergibt sich in der im Commissionsbericht der II. Kammer niedergelegten Vor- 
aussetzung über die Tragweite des Entwurfs, welche darin, wie folgt, aus- 
gedrückt ist: „Als selbstverständlich betrachten wir daß mit den Worten „re- 
ligiöser Verein“ überhaupt solche Vereine zu verstehen sind, welche sich Religion 
und die auf Religion bezüglichen Fragen zur Aufgabe setzen, daß somit unter 
dem Vorwand der Irreligiosität einem Verein die Subsumtion unter dieses 
Gesetz nicht verweigert werden darf." Gegen eine solche Auffassung spricht sich 
der Commissionsbericht der I. Kammer und der Referent Prof. Dr. v. Kuhn 
aus, indem er Atheisten unter dieses Gesetz nicht subsumirt wissen, sondern 
demselben gemäß dem ministeriellen Begleitungsvortrage und der darin nieder- 
gelegten Versicherung, daß der Staat mit dem vorliegenden Gesetze seine christ- 
liche Grundlage keineswegs aufgebe, den christlichen Charakter erhalten wissen 
will, und dies als Voraussetzung der Commission dieser hohen Kammer aus- 
spricht. Cultusminister v. Geßler bemerkt jedoch, daß der Entwurf nicht 
bloß auf christliche, sondern auch auf nichtchristliche (also z. B. auf Reform- 
juden) Dissidenten sich beziehe. Hiegegen hat v. Kuhn nichts einzuwenden, 
da die Israeliten auch an einen Gott glauben, er will nur die Atheisten und 
Gottesläugner nicht unter den Gesetzentwurf subsumirt wissen. — Eine weitere 
Meinungsverschiedenheit ergibt sich schließlich hinsichtlich der von der andern 
Kammer dem Gesetzentwurfe angehängten Bitte an die Regierung: „zu ge- 
setqzlicher Einführung des Grundsatzes, daß die Religionsverschiedenheit zwischen 
Christen und Nichtchristen kein bürgerliches Ehehinderniß bilden soll, die ge- 
eignete Einleitung zu treffen.“ In dieser Beziehung ist auch die staatsrecht- 
liche Commission der I. Kammer nicht einig. Die Mehrheit derselben 
will der Bitte der andern Kammer beitreten, beantragt jedoch folgende ver- 
änderte Fassung: „Zu gesetzlicher Einführung des Grundsatzes, daß die bür. 
gerliche Giltigkeit der Ehe fernerhin von dem Glaubensbekenntniß unabhängig 
sein soll, die geeigneten Einleitungen zu treffen.“ Die Minderheit der Com- 
mission (v. Kuhn und Frhr. v. Neurath) stellte dagegen den Antrag: „Hohe 
Kammer wolle den Beitritt zu dem Beschlusse des anderen Hauses ablehnen.“ 
Hieraus entspinnt sich eine längere interessante Debatte: die Mehrheit, haupt- 
sächlich vertreten durch Staatsminister v. Linden, Staatsminister v. Geßler 
und Obertribunalrath v. Holzschuher, welchen sich auch Fürst v. Hohenlohe- 
Langenburg anschließt, erklärt die Gestattung der Ehe zwischen Christen und 
Israeliten (denn um diese handelt es sich fast doch nur allein) als eine natür- 
liche Consequenz der Gleichstellung aller Glaubensbekenntnisse und der Auf- 
hebung jedes Gewissenszwanges. Sie würde in dem Verbot eine Beeinträch- 
tigung der Gewissensfreiheit erblicken, die durch nichts zu rechtfertigen wäre. 
Erfüllen doch die Isracliten mit den Christen alle Pflichten gegen den Staat,
	        
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