Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

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Frankreich. 
Diese republikanische Form war uns nur gelegentlich durch die Ereignisse auf- 
gedrängt worden. Sie ruhte auf Ihrer Weisheit und auf Ihrer Eintracht 
mit der Regierung, die Sie auf Zeit gewählt haben. Jetzt blicken alle Par- 
teien auf Sie, und alle fragen sich: welche Form Sie wählen werden, um der 
Republik jene conservative Kraft zu geben, deren sie nicht entrathen kann. An 
Ihnen ist es, diese Form und den rechten Augenblick zu wählen. Das Land 
hat Ihnen mit Ihren Vollmachten offenbar die Aufgabe geslellt, es zu retten, in- 
dem Sie ihm erst den Frieden, nach dem Frieden die Ordnung, mit der Ordnung 
die Wiederherstellung seiner Macht und endlich eine regelmäßige Regierung 
verschaffen sollten. Sie selbst haben das ausgesprochen, und demnach ist es 
Ihre Sache, die Reihenfolge und den rechten Augenblick für jeden einzelnen 
Theil dieses Ihnen anvertrauten rettenden Werkes zu bestimmen. Gott verhüte, 
daß wir uns an Ihre Stelle setzen wollten! Aber wenn Sie in dem von Ihnen 
bestimmten Moment einige aus Ihrer Mitte erkoren haben werden, um diese 
kapitale Aufgabe in Angriff zu nehmen, und wenn Sie dann unsere Ansicht 
zu wissen wünschen, so werden wir Ihnen dieselbe ehrlich und entschlossen mit- 
theilen. Bis dahin zählen Sie auf unsere innige Hingebung zum Lande, zu 
Ihnen, zu jenem herrlichen und unserem Herzen so theuren Ding, welches vor 
uns war und nach uns sein wird, zu Frankreich, das alle unsere Anstreng- 
ungen, alle unsere Opfer verdient. Eine große, eine entscheidende Session liegt 
vor Ihnen; unfrerseits soll es an Eiser, Hingebung und Enischlossenheit für 
den Erfolg Ihres Werkes nicht fehlen, welches Gott segne, vollständig und 
namentlich dauerhaft werden lasse — ein Glück, das uns seit dem Anbeginn 
dieses Jahrhunderts nicht beschieden war!“ 
Debatte: v. Kerdrel bittet um's Wort. (Unruhe.) Herzog Laroche- 
foucauld-Bisaccia: Wir protestiren gegen die Botschaft des Präsidenten 
der Republik! (Lärm.) Marquis v. Gouvello und mehrere andere Mitglie- 
der der Rechten, eine Gruppe bildend: Wir alle protestiren! v. Kerdrel: Ich 
habe die Ehre, zu beantragen, daß eine Commission zur Prüfung der Bot- 
schaft des Hrn. Präsidenten der Nepublik ernannt werde. Ich bitte, diesen 
Antrag als dringlich anzuerkennen, und zwar im Sinne der Geschäftsordnung 
die Dringlichkeit des Antrags zunächst in Betracht zu ziehen. Ich will mir 
heute kein Urtheil über und daher auch keinen Protest gegen die Botschaft er- 
lauben; der wahre Richter ist allein die Nationalversammlung- (Sehr gutl 
rechts. Stimmen links: Und das Land! Stimmen rechts: Die National- 
versammlung ist das Land!) Ich wünsche nichts, als ein freimüthiges Ur- 
theil aller meiner Collegen. Die Botschaft enthält — diese einzige Bemerkung 
möchte ich mir erlauben — einige Ausdrücke, die zu Mißdeutungen Anlaß 
geben könnten. Nach den Erklärungen des Hrn. Präsidenten der Republik 
sind wir vielleicht in constituirender Richtung weiter vorgerückt, als ich ge- 
glaubt habe; schon dieser Punkt erheischt Aufklärung und rechtfertigt den An- 
trag auf Dringlichkeit. Hr. Thiers: Der ehrenwerthe Hr. v. Kerdrel ap- 
pellirt an alle Parteien dieses Hauses, daß sie Über die Botschaft richten. Die 
Regierung nicht minder wendet sich an diesen Richter. Sie macht darauf An, 
spruch, das Urtheil der Nationalversammlung und des Landes ertragen zju 
können, und auch wenn sie diesen Anspruch nicht machte, könnte sie sich diesen 
Urtheil nicht entziehen. Ich für meinen Theil wünsche nur, daß die National= 
versammlung in aller Ruhe und mit aller Gründlichkeit die Botschaft ange- 
sichts des ganzen Landes prüfe und beurtheile; denn mein Gewissen ließe mir 
keine Ruhe, wenn ich, an der Spitze der Regierung stehend, ich weiß selbst 
nicht, auf wie lange, eine Haltung beobachtet hätte, die von der Nationalver- 
sammlung und dem Lande nicht gebilligt wäre. Auch ich kann mich täuschen: 
wenn ich mich täusche, so wird man mir es beweisen, und ich werde mich 
willig vor der Mehrheit dieses Hauses und vor der Mehrheit des Landes ver- 
neigen. (Sehr gut! links.) Aber ich sage: vor der Mehrheit. Noch einmal: 
ich konnte mich täuschen; aber ich glaube, im Sinne der wahrhaften Mehrheit
	        
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