Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

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Trankreich. 
Folge einer solchen wäre natürlich der sofortige Abfall derselben gewesen; die 
Unterstützung, welche sie Hrn. Thiers augenblicklich leiht, bringt sie ohnehin 
schon in eine schiefe Stellung, da sie mit ihrem ursprünglichen Glaubensartikel, 
daß die Versammlung nicht constituiren könne, in Widerspruch steht; und es 
unterliegt kaum einem Zweifel, daß die Rechte dann von ihrer Uebermacht 
sofort zum Schaden des Hrn. Thiers Gebrauch gemacht hättle. Dieser aber 
geht nicht in die Falle, und so bleibt die mehrstündige Conferenz fruchtlos. 
Rede des Hrn. Thiers: „Ich will die sog. Zweideutigkeit, welche unser 
Verhältniß verdunkeln soll, zu zerstreuen suchen. Nicht die traurige Regie- 
rungsfrage will ich vertheidigen: ich überließe sie gern Anderen, die viellcicht 
einen besseren Gebrauch von ihr machen würden; aber meine Verantwortlich- 
keit für das Ergebniß dieser Debatte will ich entlasten. Als Sie vor einigen 
Wochen hierher zurückkehrten, machte sich allgemein das Gefühl der Unsicher- 
heit unserer Zustände und das Bedürfniß geltend, nicht diese oder jene Staats- 
sorm zu proklamiren, aber die Regierung mit den für ein gedeihliches Wirken 
ndthwendigen Gewalten auszustatten. Die Botschaft konnte diesen Gegenstand 
nicht umgehen. Gleichwohl brachten unsere Worte eine große Bewegung her- 
vor, und eine Commission, der ich nicht verhehlen kann, daß sie über ihr 
Mandat hinausgegangen ist, antwortele auf die Botschaft mit einer förmlichen 
Adresse. Und was sagt diese Antwort? Während wir eine Prüfung der großen 
politischen Fragen nahelegten, begegnet man uns mit einer persönlichen Frage: 
es soll sich jetzt nur um meine Person und um mein allzu häufiges Erscheinen 
auf dieser Tribüne handeln. Man hält mir vor, daß ich bisweilen den Bei- 
fall auch einer anderen Seite dieses Hauses erhalte, man entwirft eine lange 
Schilderung von der sog. Armee der Unordnung. Gewiß, es besteht leider 
eine solche Armee, und sie ist furchtbar genug; aber darum soll man doch 
nicht immer Frankreich als jeden Tag mit einem allgemeinen Umsturze be- 
droht hinstellen. Jene Revolutionsarmee besteht in allen Ländern, und viel- 
leicht kann man sagen, daß Frankreich sie zur Zeit am wenigsten zu fürchten 
hat, da es sie erst kürzlich einmal wieder zermalmt hat. Wie ist diese Armee 
entstanden? Ich will es sagen. Das Volk hat bei uns Rechte, und es kennt 
sie leider besser als seine Pflichten . .... Warum man mir auch auf dieser 
Seite des Hauses (auf die äußerste Linke weisend) Beifall zollt Das will 
ich Ihnen sagen und damit die Zweideutigkeit heben, welche angeblich auf 
meinem Verhalten ruhen soll. In Bordeaux übertrugen Sie mir die oberste 
Gewalt in einem Momente, da ich sie nicht ablehnen konnte — oder kann 
hier etwa Jemand sagen, daß ich darum gebeten hätte! (Sehr gut! links.) 
Damals standen noch 600,000 Preußen in unserem Lande; Niemand stellte 
die Frage: ob Republik oder Monarchie; die Republik hatten wir als die 
durch die Ereignisse geschaffene Staatsform vorgefunden und übernommen; ich 
selbst erhielt den Titel eines Chefs der vollziehenden Gewalt der französischen 
Republik. Entsprach dieser Titel meiner persönlichen Vergangenheit? Nein. 
Wenn ich den Staat so zu sagen aus dem Groben hätte formen können, so 
hätte ich mir gewiß England und nicht Amerika zum Muster genommen. 
Aber ich sah wohl ein, daß der innere Frieden nur noch mit der Republik 
erhalten werden konnte. Wer von Ihnen hätte es in Bordeaux nur gewagt, 
das Wort Monarchie auszusprechen? Die persönliche Ueberzeugung eines Jeden 
wurde vorbehalten, aber ich sagte gleich, daß, wenn wir gut regierten, dieß 
unvermeidlich der Republik zu Statten kommen würde. Hätten wir deßhalb 
etwa schlecht regieren sollen! (Lärm, Heiterkeit links.) Ich versprach für 
meinen Theil, nicht im Sinne irgend einer Partei, auch nicht einmal der mei- 
nigen, sondern nur im Interesse des allgemeinen Wohls und der öffentlichen 
Ruhe zu regieren. Diese Politik halte ich für eine gute, und sie stelle ich der 
Politik einer „kämpfenden Regierung" gegenüber. (Beifall links und im Cen- 
trum.) Sie besteht darin, daß man sich immer auf den Boden stellt, auf 
welchem sich alle uneigennützigen Meinungen die Hand reichen können. In
	        
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