Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

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Trankreich. 
das Land sei nicht republikanisch! Aber die numerische Mehrheit ist es jeden- 
falls, und nach einer aufmerksamen Beobachtung der letzten Wahlen steht es 
für mich fest, daß diejenigen Candidaten, welche sich zu dem eben entwickelten 
gemäßigten Programm bekennen, die meiste Aussicht hätten, durchzudringen. 
(Zustimmung links.) Wenn Ihnen dieses nicht zusagt, so machen Sie die 
Wahlen meinetwegen mit Ihrer „kämpfenden Regierung"! (Sehr gutl links.) 
Ich habe nur noch einige Worte zu sagen. Ich habe mich Ihnen ganz ge- 
zeigt. Was Sie auch beschließen, ich werde eine Last weniger auf dem Ge- 
wissen haben, weil ich Ihnen die ganze Wahrheit gesagt habe. Ich habe Ihnen 
in meiner Botschaft gesagt, daß die einzig mögliche Republik die conservative 
ist. Sie haben zu dem Gesetz über die Rekrutirung ein Jahr gebraucht; ich 
verlange nicht, daß Sie die Regierungsfrage auf der Stelle entscheiden. Ich 
habe Ihnen nichts vorgeschlagen, sondern Ihnen nur für den Fall, daß Sie 
sich entscheiden zu müssen glaubten, einen Wink gegeben. Man wirft mir vor, 
zu oft die Tribüne zu besteigen. Wüßten Sie nur, welche Ueberwindung es 
mich kostet! Man sagt, mein Eingreifen in die Debatte sei nicht parlamen- 
tarisch. Sie sprechen von dem Parlamentarismus des Königthums. Sie können 
aber das Régime eines erblichen Regenten nicht auf den Chef einer Republik 
anwenden. Wenn der Letztere die Kammer nicht überzeugt, so tritt er zurück: 
das ist republikanischer Parlamentarismus. Sie haben also voll- 
ständigere Ministerverantwortlichkeit als irgendwo. In Amerika 
kann der Präsident getadelt werden, und bleibt doch am Nuder; ich dage- 
gen beuge mich vor Ihrem souveränen Willen und ziehe mich 
zurück. Würde mein Fernbleiben von der Tribüne die Krisen verhindern? 
Nein. Wenn Sie beim Rekrutirungsgesetz flr die dreijährige Dienstzeit ge- 
stimmt hätten, so hätte ich Ihnen auf der Stelle meine Entlassung geschickt. 
Was kann ich vor einer einzigen Kammer Anderes thun, als meine Sache 
selbst verfechten! Ich bin, nicht bloß aus Ehrlichkeit, sondern aus Achtung 
vor der Armee, die einen derartigen Befehl nur mit Entrüstung und Ver- 
achtung aufnehmen würde, kein Staatsstreichmacher. Soll ich aber bloß Ihr 
Commis, Ihr Sklave sein, der, um seine Herrschaft einige Tage länger zu 
behaupten, immer Ihrer Meinung sein muß? Wollen Sie ein solches Staats- 
oberhaupt, so suchen Sie sich ein anderes! Es ist kein Mangel daran. (Un- 
terbrechung rechts.) Ich leiste öfters der Kammer Widerstand, aber Sie können 
dieß nur hindern, indem Sie eine vollständigere Verfassung organisiren. Prüfen 
Sie die Frage reiflich, und machen Sie keine Personenfrage aus ihr. Miß- 
trauen Sie mir, so erklären Sie es direkt, ohne sich dadurch zur Annahme 
einer schlechten und bedauerlichen Resolution verleiten zu lassen. Stimmen Sie 
gegen mich, so kehre ich mit Freuden zur Ruhe und zu den edlen Studien, 
die mein ganzes Lebensglück waren, zurück. Wie aber Ihr Entschluß auch 
lauten möge, Das schwöre ich vor Gott und den Menschen, daß ich meinem 
Vaterlande diese zwei Jahre hindurch mit unbegrenzter Hingebung gedient 
habe. (Stürmischer Beifall.) Ernoul: Es ist unerläßlich, zuerst und vor 
allem Anderen unsere Beziehungen zu der exekutiven Gewalt zu regeln. Ich 
verwechsle keineswegs den Hrn. Präsidenten mit irgend einem Straßencäsar 
von 1851; aber in diesem Augenblick selbst wird durch eine gesetzwidrige Adreß- 
bewegung (sehr gut! rechts) zum Bürgerkriege gegen die Nationalversamm- 
lung aufgereizt. Da verlangen wir denn, daß die Regierung sich entschlossen 
an die Spitze der conservativen Partei stelle und nicht müßig und neutral 
bleibe, sondern Widerstand leiste. In seiner Geschichte des Consulats und 
Kaiserreichs hat Hr. Thiers selbst gesagt, daß, wie groß ein Mann auch sein 
möge, man ihm niemals die Geschicke des Vaterlandes allein anvertrauen 
dürfe. Diesen Satz machen wir geltend, und darum verlangen wir die par- 
lamentarische Regierung. Der Präsident stelle sich an die Spitze der 
Conservativen, und man wird sehen, ob er nicht über eine feste Mehrheit ver- 
ügt. Man ruft ihm zu, er solle das Tau kappen; ich sage ihm im Gegen-
	        
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