Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

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21. 
12. 
Rußland. 
Generalgouverneurs, die Gesetzvorlagen in schwedischer und finnischer Sprache 
vorliest und interpretirt. Diese babylonische Sprachverwirrung findet gewisser- 
maßen ihre Interpretation in der Stelle der Thronrede, welche auf die Ein- 
führung der russischen Sprache als obligatorischen Schulunterricht hinweist. 
In Finnland herrscht beinahe noch mehr als in den Ostseeprovinzen ein un- 
gebändigter Haß gegen Rußland und die Russen, aber ebenso gegen alles was 
deutsch ist. Man weiß nicht, ob die Finnen die Deutschen oder die Russen 
mehr hassen. Dagegen besteht daselbst noch heute eine ebenso unsinnige Vor- 
liebe für die Franzosen. Rußland legt in der That viel Geduld gegen Finn- 
land an den Tag. Während der Hungersnoth schüttete Rußland seine Wohl- 
thaten über Finnland aus, und Finnland kostet heute noch mehr als es ein- 
bringt. Die Finnländer finden im russischen Staatsdienst, und vor allem in 
der Marine, deren Officiercorps meist aus Finnländern besteht, ihr Brod; das 
hindert aber nicht, daß jener Geist in ungeschwächter Kraft fortbesteht. In 
den Schulen, in denen die russische Sprache als facultativer Unterrichtsgegen- 
stand bisher betrieben wurde, stehen die Bänke leer, und es wurde ein Fall be- 
kannt, daß ein Lehrer, dessen Gehalt gegen 1000 Rubel beträgt, aufs Land ziehen 
und seinen Kohl bauen konnte, weil in der Realschule, bei der er als ruffischer 
Lehrer angestellt war, sich nicht ein Schüler fand, der bei ihm Unterricht neh- 
men wollte. Daß die russische Regierung jetzt die russische Sprache als obli- 
gatorischen Lehrgegenstand bezeichnet, kann nur billig erscheinen, denn wer die 
Rechte haben will, muß auch die Lasten tragen. Von einer Russificirung 
Finnlands ist keine Rede. 
März. (Finnland.) Landtag: Alle vier Stände desselben erklären 
sich für Gewährung der Preßfreiheit. Die Regierung geht jedoch nicht 
darauf ein. 
„ Die Recrutirung für das stehende Heer hat im vorigen Jahre 
128,785, in diesem 130,151 Mann geliefert. Der Bauernstand 
lieferte dazu 92,1 Procent. Es ist von Intetesse, zu constatiren, daß 
in Beziehung auf den Bildungsgrad der eingezogenen Mannschaften 
ein gewisser Fortschritt zu bemerken ist, indem 1868 nur 9,27 Pro- 
cent, 1869 9,76 und 1870 10,95 Procent des Lesens kundig waren. 
April. Aushebung der bisherigen Zollgränze zwischen Rußland und 
Finnland. 
Mai. Entlassung des der ultranationalen Partei angehörigen Domänen= 
ministers Zeleny. Derselbe wird durch einen Gegner der ultranatio- 
nalen Partei, Walujeff, ersetzt. 
11. Juni. Feier des Jubiläums Peters des Großen. Die eigentliche Masse 
15. 
des Volks zeigt dabei für die historische Bedeutung des Mannes nur 
ein sehr geringes Verständniß. 
„ (Finnland.) Schluß der Session des finnischen Landtags. Die 
Thronrede bemerkt im Wesentlichen: 
„Ich danke Ihnen für die mehrmals kundgegebenen Gefühle der Unter- 
thanentreue; an der Aufrichtigkeit derselben habe ich niemals gezweifelt. Nach- 
dem ich schon früher meine Ansicht in Betreff der von den Ständen eingebrachten 
Petitionen kundgegeben habe, erachte ich es für nothwendig, bei der gegenwär- 
tigen Gelegenheit von neuem den Wunsch zu äußern, daß die Stände in Zu-
	        
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