Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Kebersicht der Ereignisse des Lohres 1872. 535 
nationale Einheit errungen, welche die Nation seit Jahrzehnten mit allen Fibern 
ihres Volksgeistes ersehnt und für die ihre besten Kräfte so lange vergeblich 
gekämpft und gelitten hatten; das deutsche Volk war aus dem Kriege un- 
bestritten als das kriegsgewaltigste hervorgegangen, sein Kaiser mit seinen 
Staatsmännern und seinen Feldherrn war unzweifelhaft augenblicklich der 
mächtigste Monarch der Erde. Aber dafür lag auch sofort ein Berg von 
Arbeit, der nur allmälig bewältigt werden konnte, auf seinen Schultern. 
Nicht eines der großen und kleinen Völker Europa's war während des Krie- 
ges mit seinen Sympathien auf Seite Deutschlands gestanden und es ist so 
ziemlich außer Zweifel, daß es nur dem persönlichen Willen des Herrschers 
von Rußland und der von ihm eingenommenen und bis zu Ende eingehal- 
tenen Stellung zu verdanken ist, daß der Krieg auf Deutschland und Frank- 
reich beschränkt blieb. Seine Russen dachten anders und selbst das stamm- 
verwandte England ging nach dem Sturze Napoleons mit seinen Sympathieen 
auf die Seite der Gegner Deutschlands über. Sogar Oesterreich spielte an- 
fangs, bevor die ersten wuchtigen Schläge fielen, welche die Kraft der deut- 
schen Armeen und die Sicherheit ihrer überlegenen Führung wie die Kopf- 
losigkeit, mit der die napoleonische Regierung sich in den Krieg gestürzt 
hatte, an den Tag legten, eine mehr oder weniger zweideutige Rolle, wenn 
auch ohne alle Einschränkung anerkannt werden muß, daß das deutsche Ele- 
ment des Kaiserstaats von allem Anfang fest und unentwegt zu Deutschland 
stand und nicht geleugnet werden kann, daß auch die österreichische Regie- 
rung rasch die ganze neue Sachlage erkannte und Graf Beust noch vor dem 
Ende des Krieges den ersten Schritt that, durch den Oesterreich auf seine 
bisherigen Anschauungen und seine alte, bis dahin mit so großer Zähigkeit 
festgehaltene Politik verzichtete, das neue deutsche Reich aus freien Stücken 
anerkannte und demselben rückhaltlos die Hand bot in seinem eigenen wie 
im Interesse Deutschlands. Aber außer Oesterreich und Rußland sah Deutsch- 
land am Ende des Kriegs unter den Staaten Europa's rings um sich lauter ge- 
heime oder offene Gegner und Neider und es war die erste, dringendste, aber 
auch schwierigste Aufgabe seines leitenden Staatsmanns, das Mißtrauen, das 
überall gegen Deutschland rege wvar, zu beseitigen und alle anderen Nationen 
davon zu überzeugen, daß der Kaiser im Sinne sowohl seiner Regierung 
als der Nation gesprochen habe, wenn er unmittelbar nach dem Ende des 
Kriegs bei Eröffnung des ersten Reichstags des gesammten Deutschlands 
gleichsam vor Europa die feierliche Verpflichtung übernahm, daß „der Geist, 
der in dem deutschen Volke lebe und seine Bildung und Gesittung durch-
	        
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