Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

538 Mebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 
rungen wieder hergestellt; zwischen der Regierung des deutschen Reichs und 
derjenigen des Hrn. Thiers, des Präsidenten der französischen Republik, 
walteten das ganze Jahr hindurch die freundlichsten Verhältnisse und bis zu 
Ende des Jahrs hatte Frankreich von den fünf Milliarden bereits drei voll- 
ständig an Deutschland bezahlt, wobei dieses jenem in allen seinen Wünschen 
auf's zuvorkommendste entgegenkam. Ueber die wahre Gesinnung der Fran- 
zosen und zwar aller Franzosen fast ohne Ausnahme konnte indeß kein 
Zweifel sein: Niemand in Deutschland gab sich der thörichten Hoffnung hin, 
daß die französische Nation das Resultat des letzten Krieges für ein end- 
giltiges ansehe und sich dabei beruhigen werde. Zunächst freilich konnte die- 
selbe auch nur halbwegs vernünftiger Weise nicht daran denken, den Kampf 
mit Deutschland wieder aufzunehmen. Für eine längere oder kürzere Reihe 
von Jahren war der Friede nach dieser Seite hin allerdings gesichert; aber 
Niemand konnte doch wissen, wie bald sich Frankreich wieder stark genug 
dazu fühle und wie bald es die Gelegenheit für günstig erachten könnte. Die 
deutschen Regierungen machten sich darüber auch keine Illusionen und alle, 
voran natürlich die preußische, verloren auch keinen Augenblick, die Lücken 
der Armee wieder auszufüllen, die Kriegsmittel aller Art zu ergänzen, die 
Festungen gegen Frankreich, Metz und Straßburg zumal, auszubauen und 
zu erweitern, um sie möglichst uneinnehmbar zu machen, die Landwehr, die, 
Preußen ausgenommen, im letzten Kriege noch sehr mangelhaft war, weiter 
zu organisiren, die Einleitungen zur Vermehrung der Artillerie zu treffen 
und überhaupt den neuesten Erfindungen und Verbesserungen der jetzt so 
hoch entwickelten Kriegskunst überall auf dem Fuße zu folgen, um mit 
Frankreich, das alle seine Kräfte anspannte, um seine Armee wieder herzu- 
stellen und darin alles, was das Kaiserreich in seinen besten Zeiten geleistet, 
noch erklecklich zu übertreffen, zum allermindesten Schritt zu halten, wo mög- 
lich den Vorsprung, den es an Zahl wie an Kriegstüchtigkeit vor Frankreich 
gehabt hatte, auch ferner zu behaupten und so jeder Eventualität mit Ruhe 
entgegen sehen zu können. Daneben hatte es aber alle Ursache, die Allianzen, 
deren es im Kriege genossen, oder die sich in Folge des Krieges gebildet 
Rußland hatten oder zu bilden schienen, mit äußerster Sorfalt zu pflegen. Die be- 
rMs währte Freundschaft des Kaisers Alexander von Rußland für Deutschland 
land. und zumal für den deutschen Kaiser blieb unverändert dieselbe, und so lange 
der gegenwärtige Herrscher von Rußland lebt, wird sie wohl auch dieselbe 
bleiben; ob sie aber fortdauern wird, wenn einst beide Throne in andere 
Hände übergegangen sein werden, ist eine andere Frage: in Rußland
	        
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