Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Die 
Allianz 
der Ost- 
mãchte. 
England 
und 
Deutsch- 
land. 
Italiens 
Verhält- 
niß zu 
542 Mebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 
liche Einverständniß der drei Ostmächte bis auf einen gewissen Grad an die 
Stelle derjenigen der Westmächte vor demselben getreten ist, so hat Deutsch- 
land, wie die Dinge gegenwärtig liegen, keine Ursache, sich darüber zu be- 
unruhigen, ist vielmehr berechtigt, darin zunächst nur eine Garantie des 
Friedens und seiner eigenen neuerrungenen Stellung in Europa zu erblicken. 
Weniger entschieden ausgeprägt erschien im Laufe des Jahres 1872 
die Stellung Deutschlands zu England und Italien. Während England 
beim Ausbruche des Krieges von 1870 mit seinen Sympathieen auf der 
Seite Deutschlands gestanden hatte, ging es mit denselben nach dem Falle 
Napoleons ganz entschieden auf die Seite Frankreichs über und eine gewisse 
verbitterte Stimmung blieb auch nach dem Kriege noch ziemlich lange zwi- 
schen der öffentlichen Meinung beider Länder zurück. Allein so lange die 
vom Fürsten Bismarck für das deutsche Reich nach Innen und Außen in- 
augurirte Politik keine Wandlung erfährt, hat eine Spannung zwischen den 
Regierungen und den Nationen beider Länder keine reale Unterlage, die 
Interessen derselben collidiren nirgends, treffen dagegen in mehr als einer 
Richtung naturnothwendig zusammen: die frühere Stimmung der öffentlichen 
Meinung hat denn auch in beiden ganz unmerklich einer viel freundlicheren 
Platz gemacht, während die innere Entwickelung Frankreichs seit dem Kriege 
in mehr als einer Beziehung ganz geeignet war, die französischen Sympathien 
der Engländer stark abzukühlen und eine unbefangenere Auffassung und Be- 
urtheilung Deutschlands und deutscher Zustände zu ermöglichen. Noch ganz 
anders aber wirkte jene innere Entwickelung Frankreichs auf Italien zurück. 
Frank-Die Verwandtschaft der Nationalität und die unläugbare Thatsache, daß 
reich und 
Deutsch- 
land. 
Italien seine Einheit und seine Freiheit nach Außen, so viel auch Deutsch- 
land im Jahre 1866 und wieder im Jahre 1870 zur Vervollständigung 
derselben beigetragen, doch vor allem nur dem Kaiser der Franzosen zu 
danken hat, zogen es naturgemäß zu Frankreich hin, wenn auch Napoleon 
selber den Ruhm der Uneigennützigkeit durch die Annexion von Savoyen 
und Nizza eingebüßt und Frankreich längst die Italiener darüber nicht im 
Zweifel gelassen hatte, daß es ihm nur darum zu thun gewesen sei, sie von 
der Abhängigkeit von Oesterreich zu befreien, um sie fortan in seiner eigenen 
festzuhalten, weßhalb es auch den Pfahl im Fleische Italiens, die päpstliche 
Curie in Rom, sorgsam hegte und pflegte. Italien spielte daher zu Anfang des 
Krieges zwischen Deutschland und Frankreich eine nicht sowohl zweideutige als 
zwiespältige Rolle. Der König und die conservative Partei der sog. Consorterie 
standen auf Seite Frankreichs, die öffentliche Meinung dagegen wenigstens
	        
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