Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Elieder. 51 
Centrums wenig Garantien zu bieten scheinen. Die Existenz dieser confessionellen 
Fraction auf politischem Boden ist an sich eine der ungeheuerlichsten Erschei- 
nungen. Sie üben dadurch auf alle katholischen Mitglieder einen Zwang aus 
der Partei beizutreten, wenn sie sich nicht Anfeindungen aussetzen wollen und 
machen die Religion zu einem Gegenstande der Tribünendiscussion. (Beifall.) 
Ich habe den Grundsatz, jeder Confession vollkommen freie Bewegung zu ge- 
statten, ohne es deßhalb für nothwendig zu halten, daß dieselben ziffermäßig 
nach Maßgabe ihrer Stärke in der Bevölkerung in allen Staatsämtern ver- 
treten sind. Ich kenne das Verhältniß gar nicht und will es auch gar nicht 
wissen, das aber gebe ich ihnen zu bedenken, daß denselben Anspruch, wie die 
Katholiken, jede andere Religionsgemeinschaft zu erheben berechtigt ist, die 
Lutheraner wie die Reformirten und die Juden — und ich habe gefunden, 
daß gerade die Letztern sich durch besondere Intelligenz und Befähigung für 
staatsmüännische Wirksamkeit auszeichnen. (Große Heiterkeit.) Als ich aus 
Frankreich zurückkehrte, um mich den innern Aufgaben des Staates zuzuwen- 
den, trat mir die neugebildete Fraction des Centrums in einer Weise gegen- 
über, daß ich darin nur die Mobilmachung der Partei gegen den 
Staat erblicken konnte. (Beifall.) Ich wurde in dieser Anschauung nicht 
erschüttert, als ich sah, daß an ihrer Spitze das streitbare Mitglied stehe, dessen 
Worte Sie so eben vernommen, ein Mitglied, welches aus Gründen, die ich 
achte, sich von vornherein dem preußischen Staatsorganismus wenig geneigt 
zeigte, und von welchem es mir noch jetzt zweifelhaft erscheint, ob die Neubil- 
dung des Reiches, sei es in dieser oder jener Gestalt, seinen Wünschen entspricht. 
Es war eine meiner ersten Sorgen, wie ich mich, ohne die Verbindung mit 
der großen Mehrheit des deutschen Volkes zu verlieren, in Fühlung erhalten 
könnte mit jener Partei; dieser Sorge wurde ich durch die Haltung jener 
mobilen Armee bald überhoben. Ich hatte gehofft, die Regierung würde eine 
Stütze finden an einer kirchlichen Partei, die dem Kaiser gäbe, was des Kaisers 
ist, statt dessen mußte ich mit Betrübniß hören, daß in den Wahlreden und 
den Preßerzeugnissen, die zum Zweck der Wahlen verbreitet wurden, etwaige 
Irrthümer und Fehler der Regierung im grellsten Lichte dargestellt wurden, 
während das Gute mit keiner Sylbe Erwähnung fand. Obwohl Zeugnisse 
Er. Heil. des Papstes und der Bischöfe es aussprachen, daß die katholische 
Kirche Grund habe, mit den Einrichtungen des Staals und der ihr darin zu- 
gewiesenen ehrenvollen Stellung zufrieden zu sein, dauerte jene Agitation fort, 
so daß ich veranlaßt wurde, einen Schritt zurückzutreten. Die Ernennung des 
ncuen Cultusministers hat dem Vorredner Veranlassung gegeben, über eine 
Verletzung der Parität zu klagen. Ein solcher Vorwurf konnte zur Zeit des 
absoluten Regiments vielleicht begründet sein, heute, wo wir eine Verfassung 
haben, ist er ein Unding; wollen Sie die Wahl der Rathgeber der Krone 
von der Confession abhängig machen, so hört die Verantwortlichkeit derselben 
auf. — Es wurde ferner über die Aufhebung der katholischen Abthei- 
lung im Cultusministerium geklagt. Diese Behörde hatte mit der Zeit 
einen Charakter angenommen, daß sie auf mich den Eindruck machte, als ver- 
trete sie nur die Rechte der Kirche gegen den Staat. Ich hatte deß- 
halb schon früher Sr. Maj. dem Kaiser vorgeschlagen, statt derselben lieber 
einen päpstlichen Nuntius am hiefigen Hofe beglaubigen zu lassen, dem gegen- 
Über wir wenigstens eine klare Stellung hätten und der uns ohne zwischen- 
liegende Strahlenbrechung über die Bedürfnisse und Forderungen der Kirche 
in Kenntniß setzte. Dennoch wagte ich nicht, diesem Wunsche weitere Folge zu 
geben, weil sich in der Oeffentlichkeit eine allgemeine Abneigung dagegen aus- 
sprach. Vielleicht werden wir doch noch auf diesen Ausweg zurückkommen, 
sobald sich die Zustände etwas friedlicher gestaltet haben. So erinnert das 
Verhältniß an die Fabel von dem Wanderer mit dem Mantel, den ihm der 
Regen nicht nehmen konnte, während die Sonne ihm denselben abgewann. 
Der Vorredner hat sodann im Verlaufe seiner Rede über die Haltung der 
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