Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

AUebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 559 
Geschäftsordnung, die jede freie Bewegung des Geistes hinderte und derzu- 
folge schließlich mit einfacher Stimmenmehrheit Beschlüsse gefaßt wurden, 
ganz wie in jedem weltlichen Parlamente. Die angebliche Einwirkung des 
hl. Geistes sank dabei zur bloßen Phrase herab und die Behauptung einer 
solchen ist im Gegentheil nur geeignet, wirklich frommen Gemüthern Aerger- 
niß zu bereiten. Die Sachlage hat sich seit drei oder vier Jahrhunderten 
total verändert: heute gibt es Telegraphen und eine Presse, wie sie zur Zeit 
des Constanzer Concils oder selbst des Tridentinums noch ganz unbekannt 
waren: die Maschinerie, durch welche die Beschlüsse des Vaticanums erzielt, 
ermöglicht und zu Stande gebracht wurden, liegt vor aller Welt Augen offen 
da und schließt eine Einwirkung des hl. Geistes wenigstens hier vollständig aus. 
Alle Versuche der Hierarchie und der ihr ergebenen Presse, die Welt über die 
Natur der vaticanischen Beschlüsse und die Art, wie sie entstanden, zu täuschen, 
sind rein vergeblich. Die katholische Kirche ist durch dieselben nicht in ihrem 
eigentlichen Glaubensinhalte, wohl aber in ihrer Verfassung eine total andere 
geworden und der Staat war vollkommen berechtigt, zu dieser Neuerung 
seinerseits diejenige Stellung einzunehmen, die seinen Interessen am ange- 
messensten schien, ohne seine Gränzen zu überschreiten und ohne in das 
innere Gebiet der Kirche einzugreifen. 
Kein einziger Staat Europa's hat die Beschlüsse des vaticanischen Haltung 
Concils positiv anerkannt. Die meisten erklärten vielmehr ausdrücklich, daß —*“ 
sie dieselben nicht anerkennen und sie als für sich nicht bestehend crachteten. rungen. 
Damit begnügten sie sich jedoch auch. Die katholische Kirche besteht aber 
aus Form und Inhalt: diesen, der ja derselbe geblieben war, anerkannte 
der Staat nach wie vor, nur jener und auch ihr nur, soweit sie eine andere 
geworden, versagte er seine Anerkennung. Form und Inhalt lassen sich indeß 
auch in diesem Verhältnisse wie auf anderen Gebieten nur schwer trennen. 
Daher der Streit, der um so heftiger entbrennen mußte, als es der Staat 
versäumt hatte, zu der gewaltigen Revolution innerhalb der katholischen Kirche 
rechtzeitig Stellung zu nehmen und es erst that, da er es thun mußte, da 
er sich einer vollendeten Thatsache gegenüber sah. Diese selber aber ist nur 
das letzte Glied einer langen Kette, deren weitere sich im Syllabus, in den 
wiederholten Versammlungen der Bischöfe zu Rom im Laufe des letzten 
Jahrzehents, in der Verkündigung des Dogma's von der unbefleckten Em- 
pfängniß Maria's, in der ganzen Reihe der mit Nom abgeschlossenen Con- 
cordate bis auf das folgenschwere österreichische und so fort bis zurück zur 
Wiederherstellung des Jesuitenordens und weiter verfolgen lassen. Wenn der
	        
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