Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

560 Nebersicht der Ereignisse des Lahres 1872. 
Staat durch die päpstliche Unfehlbarkeit mehr oder weniger plötzlich aus 
seiner Ruhe aufgerüttelt wurde, so geschah es nur, weil er die Augen vor- 
her vielfach gewaltsam gegen das, was von einer mächtigen und rastlos 
thätigen Partei innerhalb der katholischen Kirche seit Jahrzehenten geplant, 
vorbereitet und geschaffen wurde, geschlossen, ja es aus mißverstandenem 
Der Conservatismus vielfach sogar begünstigt hatte. Jetzt befand sich der Staat 
„an allerdings im Stande der Nothwehr. Aber es entspricht der Wahrheit doch 
Staat unnicht völlig, wenn behauptet wird, die Kirche habe den Streit und zwar ge- 
Kiche- wissermaßen muthwillig begonnen. Auch die Kirche befindet sich in gewissem 
Sinne im Stande der Nothwehr, nicht nur der Staat. Der seit dem 
deutsch-französischen Kriege ausgebrochene Kampf zwischen Staat und Kirche 
ist ein nothwendiges und unausweichliches Produkt der Entwickelung der eu- 
ropäischen Menschheit. Der moderne Staat stammt nicht von gestern und 
auch nicht von der französischen Revolution von 1789, seine Anfänge reichen 
vielmehr zurück bis in den Ausgang des Mittelalters. Die Kirche ist nicht 
in ihrem eigentlichen inneren Gehalte, wohl aber in ihrer ganzen Form, 
ihrem Organismus, ihren Anschauungen, ihren Ansprüchen ein Produkt des 
Mittelalters. Allmälig aber seit dem 14. und zumal seit dem 15. Jahr- 
hundert ist unsere ganze Weltanschauung eine vollkommen andere geworden, 
als diejenige war, aus welcher die katholische Kirche emporgewachsen ist, und 
wird es täglich mehr. Im Mittelalter bewegte sich der Staat wesentlich in 
den Bahnen der Kirche und war dieser, wenn auch nicht rechtlich, so doch 
thatsächlich vielfach untergeordnet und die Verdienste der Kirche des Mittel- 
alters um die Civilisation, um den Fortschritt der Menschheit in Wissenschaft 
und Kunst, in allem, was das Leben hebt und verschönert, soll nicht be- 
stritten und nicht verkleinert werden. Die neuere Zeit hat das Verhältni# 
wesentlich umgekehrt: die Wissenschaft hat sich von der Kirche unabhängig 
gemacht und verfolgt ihre eigenen Bahnen nach allen Seiten völlig frei und 
völlig selbständig und der Staat ist seinerseits zum Bewußtsein seiner vollen 
Aufgabe gelangt und ist unermüdlich in der Arbeit, sie immer tiefer und 
vollständiger zu erfassen. Im Mittelalter überwogen die gemüthlichen, in 
der Neuzeit die geistigen Kräfte, die Kräfte der Intelligenz, und dieses Ueber- 
gewicht vermehrt sich fast von Tage zu Tage, ohne daß damit gesagt ist, 
daß unsere Zeit die Kräfte des Gemüthes unterdrücken oder auch nur ge- 
ring achten und nicht vielmehr nach Möglichkeit ihre Ausbildung und Be- 
thätigung unterstützen und fördern soll. Es ist damit nur eine Thatsache 
ausgesprochen, die kaum geläugnet werden kann und die wohl, wie alles,
	        
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