Mebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 561
dem Plane der göttlichen Vorsehung entspricht. Diese geistige und staatliche
Entwickelung der Neuzeit ist so stark und so entschieden in beschleunigtem
Maße fortschreitend, daß die Kirche allmälig eine ihrer Stützen nach der
anderen wanken und gar manche dahin fallen sah, ohne es hindern zu
können. Die Kirche erkannte nachgerade deutlich, daß bei der Entwickelung,
welche die Dinge genommen hatten und immer entschiedener und rücksichts-
loser nehmen, der Staat und die Wissenschaft die Kirche zwängen, in ihre
Bahnen einzulenken und sich in diesen in einer gewissen unläugbaren Ab-
hängigkeit zu bewegen. Dagegen bäumte sich nun die Kirche und zwar vor
allem die römisch-katholische auf, in der festen Ueberzeugung, daß ihr Orga-
nismus und zwar bis in die kleinsten Details hinaus eine unmittelbar
göttliche Institution und, so wie sie ist, von Gott selber zu einer ewigen
Dauer bis an's Ende aller Dinge berufen sei. Viele Stürme schon waren
im Laufe der Jahrhunderte über die römische Kirche hingegangen, aber sie
waren nür vorübergehend und von kurzer Dauer gewesen; die Kirche hatte
sich gebeugt und war nachher wieder aufgestanden, nicht weniger fest und
nicht weniger mächtig als zuvor. Was sie jetzt sah, war kein derartiger
bloß vorübergehender Sturmwind, der Boden selbst, auf dem sie stand und
bisher fest zu stehen gemeint hatte, wankte, verschwand theilweise unter ihren
Füßen, wandelte sich zusehends um: ein Ende war gar nicht abzusehen.
Der Verlust des Kirchenstaates im Jahre 1860 machte das Maß des Er-
träglichen voll und schnitt den Faden der Geduld endgiltig ab. Daran,
irgendwie nachzugeben, sich mit dem veränderten Geiste und den neuen Be-
dürfnissen der Zeit zu verständigen und auszugleichen, wurde in Rom auch
nicht einen Augenblick gedacht. Eine Institution, die nicht nur in ihrem
Princip, sondern in allen ihren Einzelheiten, so wie sie ist, eine göttliche zu
sein glaubt, kann nicht nachgeben, sie muß widerstehen, sie muß für ihren
Bestand ohne die geringste Concession kämpfen und wird schließlich, davon
ist sie felsenfest überzeugt, auch siegen. Für eine solche Macht kann es sich
nur darum handeln, welche neue Mittel, da die alten nicht mehr genügten,
zu ergreifen seien, um sich zu behaupten gegen den Andrang der Zeit und
ihn zu überwinden. Gegen die Umwälzung des 16. Jahrhunderts hatte die
Institution der Gesellschaft Jesu genügt, mit ihr war es gelungen, in weiten
Gebieten die schwachen Keime des Protestantismus völlig auszutreten, nicht
minder weite, die demselben schon anheimgefallen, ihm wieder zu entreißen
und demselben überhaupt Schranken zu setzen. Der neuen, noch größeren
Gefahr mußte auf demselben Wege durch verstärkte Mittel entgegen getreten
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