Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

AUebersicht der Ereignisse des Lahres 1872. 563 
noch lange nicht. Noch gährt es in der Tiefe und auf allen Seiten ge- 
waltig durch einander und diese Gährung treibt, das kann unbedenklich zu- 
gestanden werden, viel Unreifes und Unreines an die Oberfläche, das besei- 
tigt und überwunden werden muß. Das ist oft keine kleine und keine leichte 
Arbeit. Aber die Neuzeit wird und muß damit fertig werden, wenn wir 
auch nicht wissen, wie viele Jahrhunderte sie dazu bedürfen wird. Inzwischen 
wogt der Kampf zwischen den Gebilden der alten und der neuen Welt- 
anschauung hin und her. In der allgemeinen geistigen Entwickelung der 
Zeit hat die neue Weltanschauung, so unvollkommen und unvollständig sie 
auch noch ist, doch bereits weit das Uebergewicht gewonnen und gewinnt es 
ganz unwiderstehlich täglich mehr. Aber der Uebergang, die Umformung 
der aus der alten Zeit und der alten Weltanschauung noch vielfach in die 
neue hereinragenden politischen und kirchlichen Gebilde und Organismen 
wie die Ausgestaltung neuer Organismen ist ein schweres Stück Arbeit, 
das nur langsam und meist nicht ohne die heftigsten Kämpfe bewältigt 
wird. Die alte Zeit wehrt sich mit aller Macht gegen die neue und so 
vergeblich es auch sein wird, hofft immer noch, sie schließlich überwinden 
zu können. Allen anderen Mächten der alten Zeit voran steht dabei die 
römisch-katholische Kirche: wenn alles wankt, Rom wankt nicht, wenn alles 
Concessionen macht, Rom macht keine, es will bleiben, was es war und will 
es in alle Ewigkeit bleiben; nicht eine der Ideen, die es zur Zeit der Blüthe 
des Mittelalters ausgebildet, nicht einen der hochfliegenden Ansprüche, den 
es damals gefaßt, hat es aufgegeben oder ist es gemeint, jemals aufzugeben. 
Der Kampf zwischen der neuen und der alten Zeit mußte sich fast noth- 
wendig schließlich zu einem Kampf zwischen dem modernen Staat und Nom 
gestalten und er hat sich dazu gestaltet, wenn wir auch ersichtlich erst in den 
Anfängen desselben stehen. Das Christenthum selbst steht dabei außer Frage. 
Die constituirten Gewalten, welche den Kampf mit Nom aufgenommen haben, 
denken auch nicht von ferne daran, dem Christenthum selber zu nahe zu treten, 
nicht einmal der Kirche in ihrer gegenwärtigen Organisation, so sehr sie 
auch einer Reform in Haupt und Gliedern bedürfte, sobald sie nur sich ent- 
schlösse, auf ihre rein religiöse Aufgabe sich zu beschränken und auf ihre le- 
diglich weltlichen Ansprüche zu verzichten, den modernen Staat in der Ver- 
folgung seiner ethischen Aufgaben nicht zu hemmen und nicht zu bekämpfen. 
Dazu kann sich aber Rom nie und nimmer entschließen; es bleibt, was es 
im Mittelalter war und will es in alle Zukunft bleiben. Und dabei findet 
es Verbündete: auch auf weltlichem Gebiete ist der Kampf des modernen 
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