Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Tebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 567 
Gut keine Steuern und die Cleriker sind von jeder welllichen Gerichtsbarkeit 
eximirt; die Civilehe muß, wo sie besteht, wieder abgeschafft werden, die 
Ehe ist ein ausschließlich kirchliches Institut und die Führung der Standes- 
register ist Sache der Kirche; die Schule steht durchaus unter geistlicher 
Leitung und wenn die Kirche dabei dem Staate oder den Laien einigen 
Einfluß gestattet, so ist lediglich ihr guter Wille, die Besoldung der Schul- 
lehrer ist dagegen Sache des Staats oder der Gemeinden; die Aussicht der 
Kirche erstreckt sich auch auf alles höhere Unterrichtswesen, namentlich auch 
auf dasjenige der Universitäten; die Bildung und Erziehung der künftigen 
Cleriker erfolgt von den zartesten Jahren an in eigenen geistlichen Semina- 
rien, die von der Außenwelt möglichst abgeschlossen sind; die Presse steht 
unter geistlicher Censur. „Bonifaz VIII. hat in der Bulle unam sanctam 
„die Oberhoheit der Kirche über den Staat proklamirt; wir räumen es ein 
„und betonen mit ihm diese Oberhoheit, weil wir, sobald wir daran zwei- 
„felten, aufhören müßten, Katholiken zu sein. Der Staat mag nach seinem 
„Ermessen sich mit seinen Finanzen, seinem Heere, seinem Handel, der in- 
„neren Ordnung unter seinen Bürgern u. dgl. beschäftigen, die Kirche wird 
„ihn gewähren lassen, es sei denn, daß er in diesen Dingen die Gerechtig- 
„keit verletze, die christliche Moral mit Füßen trete und seinen politischen 
„Zwecken die ungleich höheren Interessen der Seelen opfere. In diesem 
„Fall würde die Kirche ihn ermahnen, zurechtweisen, strafen. Es sind zwei 
„Gewalten von sehr verschiedener Natur und die eine der andern unterge- 
„ordnet. Eine Gefahr ist nicht zu fürchten, wenn der Staat sich in der 
„dargelegten Weise der Kirche unterwirft. Weßhalb nicht? Weil durch diese 
„Unterordnung des Geringeren unter eine göttliche Gesellschaft an der Natur 
„der beiden Theile nichts geändert wird. Die Unterwerfung, welche die welt- 
„lichen Fürsten der Kirche schulden, ist übrigens, genau genommen, nur eine 
„ne gative Unterwerfung. Dieselbe besteht darin, auf ihrem weltlichen Gebiete 
„ nichts zu thun, was gegen das Recht des der Kirche angehörenden höher 
„stehenden geistlichen Gebietes verstößt.“ Das ist ausgesprochener Maßen 
das Idcal, das Ziel der anerkannten Organe des Vaticans und der ultra- 
montanen Partei. Die Wirklichkeit entsprach demselben allerdings nirgendwo 
und zu keiner Zeit ganz, und heute weniger als je. Aber es wäre das 
nach ihrer Anschauung die wahre Stellung der Kirche in ihrem vollsten und 
reinsten Glanze. Es ist auch keineswegs ein bloßes Phantasiegebilde; jeder 
einzelne der oben angeführten Punkte war zu irgend einer Zeit und in ir- 
gend einem Lande anerkannt, wenn auch vielleicht unvollkommen durchgeführt.
	        
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