568 Mebersicht der Greignisse des Tahres 1872.
Auch in Zukunft wird es schwer sein, das Ideal vollständig zu erreichen,
aber es muß doch als solches und als Ziel angestrebt werden. Vorerst
schrecken freilich noch viele, im Uebrigen gut ultramontane Katholiken vor
dieser oder jener Consequenz zurück, wenn sie auch das System selber
im Princip als richtig und berechtigt anerkennen: das ist aber lediglich eine
Frage der Opportunität; mit der Zeit würden sie der Logik der Thatsachen
nicht auszuweichen vermögen. Wer sich auf den Boden des Systems stellt,
muß nothwendig Schritt für Schritt weiter gehen: wenn der Einzelne zag-
haft stehen bleibt, so werden andere Muthigere an seine Stelle treten. Dos
ist der Hintergrund der ultramontanen Partei. Er liegt hinreichend ange-
deutet in den Sätzen des Syllabus und in den Beschlüssen des vaticanischen
Concils und ist seither, wie gesagt, von den anerkannten Organen der rö-
mischen Curie einläßlich und unumwunden dargelegt worden.
Der Mi- Der Geist der deutschen Nation hat sich diesem System niemals gefügt.
Drent Jahrhunderte lang hat er gegen dasselbe angekämpft. Die Erfolge waren
lands. wechselnd und das schließliche Resultat ein unentschiedenes. Die Päpste ver-
mochten ihre Ansprüche nicht definitiv durchzusetzen, ohne darum jemals auch
nur auf einen derselben zu verzichten; das deutsche Reich aber ging daran zu
Grunde. Inzwischen nahm die Menschheit in einer ganzen Reihe von Er-
eignissen eine Entwickelung, welche sie von der Frage ablenkte und zu dem
Glauben verleitete, sie sei für immer begraben. Plötzlich erhebt sie sich wieder
und zwar mit einem Nachdruck, der an zwingender Gewalt kaum schwächer
ist, als in irgend einem der früheren Jahrhunderte, wenn auch die Art und
Weise, wie der Kampf aufgenommen und geführt wird, sich als ein ganz
verschiedener darstellt. Und wieder sieht sich Rom mit seinen Ansprüchen in
erster Linie der deutschen Nation gegenüber. Wie schon angedeutet, war die
Lage Roms Deutschland gegenüber beim Eintritt in den Kampf keine un-
günstige. Die deutschen Regierungen und zwar vor allem aus die größte
unter denselben, die preußische, hatten seit Jahrzehenten die mannigfaltigen,
offenen und geheimen, unermüdlichen und zähen Bestrebungen Noms und
seiner unbedingten Anhänger für Befestigung und Ausbreitung seiner Herr-
schaft und seines Einflusses nicht nur ruhig geschehen lassen, sondern sogar
noch vielfach unterstützt, nur in seltenen Fällen ganz, wie in Hessen gegenüber
der bischöflichen Curie von Mainz, auf die Rechte des Staats ausdrücklich
verzichtet, aber doch von denselben, auch wenn sie gesetzlich außer Zweifel
standen, keinen Gebrauch gemacht. Die deutschen Bischöfe wurden von der
römischen Nuntiatur in München unter strenger Aussicht gehalten: die An-