Uebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 569
schauungen der Jesuiten und ihre Anstrengungen, in der Umgebung der Bi-
schöse und im Volke festere Wurzeln zu fassen, wurden von ihr energisch
unterstützt; ihr fiel, zum warnenden Beispiel für andere, der milde württem-
bergische Bischof Lipp von Rottenburg zum Opfer. Die Opposition der Bi- Die
schöfe auf dem vaticanischen Concil, dessen Beschlüsse sie ihrer bisherigen
Stellung neben dem Oberhaupte der Kirche entkleideten und als willenlose
Werkzeuge unter den römischen Papst herabdrückten, war das letzte Aufflackern
ihres durch eine tausendjährige Geschichte geheiligten, aber seit Jahren schwächer
und schwächer gewordenen Selbständigkeitsgefühls, ihr Widerstand gegen die
Unfehlbarkeit des Papstes war schon nur zum kleinsten Theile ein principieller
und ging weit überwiegend bloß aus Opportunitätsrücksichten hervor, indem
sie, ohne sich die Augen mit Gewalt zuzumachen, doch einsehen mußten, daß
sich Deutschland, wo wissenschaftliche Bildung in unendlich weiteren Kreisen
verbreitet ist, uls man in Rom nur zu ahnen scheint, derlei doch nicht so
leicht werde bieten lassen und daß nicht bloß Rom, sondern die Kirche selbst
damit in Deutschland den größten Gefahren entgegen gehe. Es erforderte
eine nicht geringe Resignation von Seite der Bischöfe, sich dem Machtgebote
Roms zu fügen; aber es hätte hohen Muthes bedurft, Rom zu widerstehen
und damit sich und die Kirche nicht minder großen Gefahren auszusetzen,
denjenigen eines tiefgreifenden Schisma's. Jenes war immerhin noch unend-
lich leichter, als dieses: sie unterwarfen sich. Die Folgen, die sie davon
vorausgesehen, blieben nicht aus, aber sie entwickelten sich nur langsam. Die
öffentliche Meinung, die weit überwiegende Mehrheit der gebildeten Klassen
Deutschlands, auch des katholischen Deutschlands, ließ die Bischöfe über ihre
Anschauungen und Ueberzeugungen allerdings sofort nicht im Zweifel. Aus
ihr ging zunächst der sog. Altkatholicismus hervor, aber er war, zumal für
den Anfang, viel zu schwach, um die Stellung der Bischöfe den Massen
gegenüber, die ihnen blindlings zu folgen gewöhnt waren, zu erschüttern, er
Bischöfe.
diente im Gegentheil in erster Linie nur dazu, den Clerus fest um die Bi- usbern.
schöfe zu schaaren da seine Stellung in jeder Beziehung eine viel zu un-
sichere ist, als daß er es hätte wagen können, auf eigenen Füßen zu stehen,
wenn man auch annehmen muß, daß die Intelligenz doch nur bei einer
kleinen Minderzahl eine so verschwindend geringe sei, um die päpstliche Un-
fehlbarkeit nicht als kirchliches Verfassungsgesetz — als solches wäre sie, wie
gesagt, begreiflich und wenn man will, berechtigt —, sondern als eigentlichen
Glaubenssatz, als Dogma anzunehmen. Der Clerus konnte der Macht und
den Einflüssen der neubekehrten Bischöfe und den Drohungen, die sie alsbald