Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

576 Mebersicht der Ereignisse des Zahres 1872. 
„eine stärkere Grundlage für das katholische Bedürfniß bot als Preußen, 
„haben wir den Frieden gehabt. Dieser Friede wurde schon bedenklich an- 
„gefeindet nach dem österreichischen Krieg, als damals die Macht, die in 
„Deutschland so lange das katholische Princip aufrecht erhalten hatte, 1866 
„im Kriege unterlag und die Zukunft Deutschlands in die Hand eines cvan- 
„gelischen Staates gelegt wurde. Aber man verlor die Nuhe auf der andern 
„Seite vollständig, als die zweite katholische Hauptmacht in Europa denselben 
„Weg ging, und uns eine Macht zufiel, die mit Gottes Hilfe in unserer 
„Hand bleiben wird. So ist wenigstens die Thatsache bestätigt, daß gleich- 
„zeitig mit Preußens Wachsthum sich eine Verminderung des confessionellen 
„Friedens herausgestellt hat.“ Die berührte Angelegenheit kam am 14. Mai 
im Reichstage direkt zur Sprache. Gelegentlich des Budgets für 1873 
wurde aus der Mitte der nationalen Partei die Anregung gemacht, die „Be- 
leidigung des Kaisers“ durch den Papst mit der Streichung des Postens 
für die Gesandtschaft beim heil. Stuhle zu beantworten, ähnlich, wie man 
die Gesandten vor dem Ausbruche eines Krieges abzurufen pflegt. Fürst 
Bismarck sprach sich dagegen aus: er wollte seinerseits die Brücke der Ver- 
ständigung nicht hinter sich abwerfen. „Die Negierung schuldet es unseren 
„katholischen Mitbürgern, daß sie nicht müde werde, die Wege aufzusuchen, 
„auf denen die Regelung, deren die Zerwürfnisse zwischen der geistlichen und 
„der weltlichen Gewalt im Interesse des innern Friedens absolut bedürfen, 
„in der schonendsten Weise gefunden werden mag.“ Aber er anerkannte 
gleichzeitig die ganze Schwere der Lage und gab seiner Ueberzeugung Aus- 
druck, daß er eine Beseitigung der gegenwärtigen Uebelstände, der tiefen 
Differenz zwischen Staat und Kirche durch ein Concordat, also durch gegen- 
seitige Verständigung, für ganz und gar unmöglich halte, und daß es „schwer- 
lich anders werde geschehen können, als auf dem Wege der Gesetzgebung und 
zwar einer allgemeinen, zu welcher demnach die Regierung auch die Thätig- 
keit des Reichstags werde in Anspruch nehmen müssen“. Dabei betonte er, 
daß dieß „in einer durchaus schonenden, zurückhaltenden, zart verfahrenden 
Weise geschehen müsse“, sprach aber doch das geflügelte Wort aus: „dessen 
seien Sie sicher: nach Canossa gehen wir nicht, weder in kirchlicher, noch in 
politischer Beziehung!“ und knüpfte daran gegenüber dem Haupte der ultra- 
montanen Partei, dem Abgeordneten Windhorst, unter dem lauten Beifall des 
Hauses die feste Erklärung: „Das kann ich ihm versichern, daß gegen- 
„über den Ansprüchen, welche einzelne Unterthanen des Kaisers geistlichen 
„Standes erheben, daß es Landesgesetze gebe, die für sie nicht verbindlich
	        
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