Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

580 Aebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 
ohne Erlaubniß und zum Theil wider das ausdrückliche Verbot des Staates, 
sowie das darauf erfolgte Vorgehen der Bischöfe mit Excommunikationen 
und anderen Gewaltmitteln gegen Alle, die wider jene Deerete sich sträubten, 
gewesen und zwar war diese Kriegserklärung der Kirche wider den Staat 
jener des Staates wider die Kirche vorangegangen. Doch soll darauf kein 
besonderes Gewicht gelegt werden. Die Eigenthümlichkeit beider Kriegs- 
erklärungen und des ganzen zur Zeit unläugbar hin und her wogenden 
Kampfes zwischen den beiden Gewalten besteht darin, daß weder die Kirche 
dem Staat überhaupt, noch der Staat der Kirche selber den Krieg erklärt 
hat und nicht erklären will. Die Kirche ist weit entfernt, den Staat zu 
negiren, sie verlangt nur den Umfang ihres Gebietes und ihrer Rechte selbst 
zu bestimmen, auf diesem Gebiete völlig frei und selbständig schalten und 
walten zu können, und daß der Staat sich ihr bezüglich dieses Gebietes, wie 
es ihr dasselbe zu definiren beliebt, süge und unterordne; und genau eben 
dasselbe nimmt der Staat für sich in Anspruch, ohne ins innere Gebiet der 
Kirche, soweit er es als solches anerkennt, irgendwie eingreifen zu wollen. 
Eine gegenseitige Verständigung, ein Ausgleich zwischen Beiden über die sich 
bezüglich der Grenzgebiete geradezu diametral widerstreitenden Ansprüche durch 
das Mittel der sogen. Concordate hat sich für den Staat als völlig unprak- 
tisch erwiesen und hat von allen denjenigen Staaten, die sich ihrer Würde 
und ihrer Rechte klar bewußt geworden sind, grundsätzlich ausgegeben werden 
müssen. Da nun aber über den beiden Gewalten auf dieser Welt keine 
höhere anerkannte Gewalt, auch kein anerkanntes Schiedsgericht, an das Beide 
Berufung einlegen könnten, besteht, so bleibt der einen wie dem anderen im 
Falle einer unlösbaren Differenz nichts übrig, als die Selbsthülfe, der Appell an 
das Gottesgericht, was man auf rein weltlichem Gebiete unter den verschiedenen 
Staaten Krieg nennt und auch in diesem Falle kaum anders als Krieg wird 
genannt werden können, wenn auch die Art und Weise der Kriegsführung eine ganz 
andere ist als im Kriege zwischen zwei Staaten. Die oben genannten Maßregeln 
der einen und der andern Gewalt können daher als Kriegserklärungen bezeichnet 
oder doch mit solchen verglichen werden. Die Frage, wer zuerst den Kricg 
erklärt habe, ist, wie schon angedeutet, an sich ziemlich gleichgültig; der Aus- 
bruch desselben war früher oder später unausweichlich, er mußte aus der 
Entwicklung der Dinge selber hervorgehen, daraus, daß die Kirche ihre in 
einer ganz andern Weltanschauung als der heutigen begründeten und in 
ganz andern Zeiten gemachten Ansprüche festhält und womöglich immer noch 
ingert, der Staat aber sich unter dem Einfluß der heutigen Weltanschauung
	        
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