Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

592 Mebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 
einem entschiedenen Particularisten und Gegner der nationalen Strömung, 
zu besetzen, und da die übrigen Minister sich ihn als Collegen verbaten, 
trug er demselben auf, ihm Vorschläge bezüglich der Bildung eines gemäßigt 
clerical particularistischen Cabinets zu unterbreiten. Hr. v. Gasser bemühte 
sich auch, dem Auftrage zu entsprechen, aber seine Versuche nahmen nach 
langem vergeblichem Bemühen ein sehr klägliches Ende, eine Thatsache, welche 
die Stärke der liberalen und nationalen und die Schwäche der particulari- 
stischen Strömung vielleicht mehr als Alles in's Licht setzt. Hr. v. Gasser 
fand fast Niemanden, der geeignet gewesen wäre oder Lust gehabt hätte, mit 
ihm ein Ministerium der oben bezeichneten Art zu bilden; die Führer der 
Ultramontanen aber oder überhaupt reine und entschiedene Ultramontane zum 
Regiment zu berufen, daran dachte die Krone nie und konnte nach der ganzen 
Sachlage in Bayern, in Deutschland und in Europa gar nicht daran denken. 
Die Bildung eines entschieden ultramontanen Regiments wäre unter allen 
Umständen ein gefährliches und für die Dauer sicher vergebliches, augenblick- 
lich aber offenbar ein geradezu halsbrecherisches Unternehmen. Ob dagegen 
das Ministerium oder die Krone nicht einen Mißgriff gethan hat, daß es 
die II. Kammer nicht unmittelbar nach dem Kriege und unter dem unge- 
heuren Eindruck der kriegerischen und der politischen Ereignisse aufgelöst und 
Neuwahlen angeordnet hat, und ob es nicht vielleicht doch und zwar gerade 
vom Standpunkt der Krone aus wünschbar wäre, dem Gleichgewicht der 
Kräfte und dem daraus hervorgehenden Stillstand in der politischen Ent- 
wickelung des Landes durch die Berufung eines entschieden liberalen Cabi- 
nets, das vor den Consequenzen seiner Ueberzeugung in keiner Weise zurück- 
schreckte, ein Ende zu machen, und ob sich nicht in und außer dem Land- 
tage Männer finden ließen, die, ebenso klug, umsichtig und vorurtheilsfrei 
als energisch, der allerdings schwierigen und dornenvollen Aufgabe gewachsen 
wären, ist eine andere Frage. So viel ist wenigstens sicher, daß Bayern 
unter dem gegenwärtigen Ministerium diejenige Rolle im Reich nicht spielt 
und nicht spielen kann, auf die es Anspruch machen zu dürfen glaubt. 
Um- Immerhin muß zugegeben werden, daß die Verhältnisse vielleicht nirgends 
]er Deutschland so schwierig liegen, wie in Bayern. Im Großherzogthum 
Hessen trat im Jahr 1872 ein totaler Umschwung des Regiments ein, aber 
dort waren die Verhältnisse im Grunde sehr einfach. Nach dem ganzen 
Gange der deutschen Entwickelung im Laufe des verflossenen Jahrzehents läßt 
es sich leicht begreifen, wie der Frhr. v. Dalwigk lange Jahre im Gegen- 
satze gegen die weit überwiegende öffentliche Meinung des Landes das
	        
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