Uebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 593
unbedingte Vertrauen seines Fürsten genießen konnte, weniger wie dieser die
Connivenz seines Ministers gegenüber dem Bischof Ketteler von Mainz gutheißen
konnte und decken mochte. Die Ereignisse des Jahres 1866 erschütterten die
Stellung Dalwigks und der große Umschwung von 1870 zwang ihn zum Rück-
tritt. Aber sein System und seine eifrigsten und hervorragendsten Mitarbeiter
blieben nach wie vor am Ruder. Erst der Tod eines derselben brachte das
ganze System in's Wanken und führte eine Krisis herbei, aus der ein ent-
schieden liberales und aufrichtig national gesinntes Ministerium fast nothwendig
hervorgehen mußte. Die große Mehrheit der Bevölkerung athmete darüber
förmlich wieder auf: die Neuwahlen zur II. Kammer nach einem den Anschau-
ungen der Gegenwart endlich entsprechenden Wahlgesetz legten die Schwäche
der ultramontanen Partei und die Stärke der liberalen und nationalen so-
fort in einer alle Zweifel ausschließenden Weise zu Tage. Nicht allzu ver= Sachsen.
schieden von den hessischen sind auch die Verhältnisse im Königreich Sachsen.
Seit der Reform des Wahlgesetzes für die Kammer hat auch dort die libe-
rale Partei in ihren verschiedenen Schattirungen, sobald sie zusammenhält,
das Uebergewicht, obgleich daneben eine starke particularistische Partei, die
eine lebhafte, althergebrachte Abneigung gegen Preußen und alles, was aus
Preußen kommt, nährt, und eine gleichfalls zahlreiche demokratisch-socialistische
Partei in den Fabrikstädten des Landes existirt. Ohne ein parlamentarisches
zu sein, entspricht das gegenwärtige Ministerium dieser Sachlage. Dasselbe
brachte denn auch in der Landtagssession von 1872 eine Reihe von Ge-
setzesentwürfen über das Unterrichtswesen, eine Städte= und Landgemeinde-
ordnung und eine Vertretung der Bevölkerung in der Verwaltung der Be-
zirke zur Vorlage. Alle diese Entwürfe trugen ein entschieden liberales Ge-
präge und doch führten sie zu einer Art Conflict zwischen der Regierung
und den Kammern. Die letzteren Gesetze waren nämlich der I. Kammer
allzu liberal, das Volksschulgesetz dagegen der II. Kammer nicht liberal
genug. Diese beschloß mit ziemlicher Majorität, den Confessionalismus
aus der Volksschule durchaus zu entfernen, stieß aber darin auf den
Widerstand nicht bloß der Regierung, sondern auch der I. Kammer, und
unterlag endlich beiden in Folge einer eigenthümlichen Bestimmung der säch-
sischen Verfassung, während die I. Kammer bezüglich der anderen Gesetze
Concessionen machte und schließlich beide sich darüber gütlich verständigten.
Seither scheint zwischen demjenigen Theile der öffentlichen Meinung, der in
der Majorität der II. Kammer den Ausdruck seiner Anschauungen und seiner
Wünsche erkennt, und der Regierung eine gewisse Spannung eingetreten zu
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