594 AUebersicht der Ereignisse des Zahtes 1872.
sein, die indeß insofern kaum berechtigt erscheint, als das neue Volksschul-
gesetz immerhin einen ganz gewaltigen Fortschritt bezeichnet, und sich nur
daraus erklärt, daß die Regierung seit Jahren in jeder Weise ein streng
orthodoxes Lutherthum begünstigt und aufrecht erhält, wie es dem nüchtern-
verständigen Wesen des sächsischen Volksgeistes kaum entsprechen dürfte. —
Noch bleibt zu erwähnen übrig, daß die Finanzlage der sämmtlichen deut-
schen Mittelstaaten trotz der sehr bedeutenden Erhöhung der Militärlasten und
der Bedürfnisse des Reichs überhaupt, sowie der fort und fort steigenden An-
sprüche aller Zweige der Verwaltung sich als eine sehr befriedigende, diejenigen
Preußens aber als eine geradezu glänzende darstellten und nur ein Theil der
Kleinstaaten sich durch die Ansprüche des Reichs in eine Lage gedrängt sieht,
aus der ein alle Interessen befriedigender Ausweg kaum möglich sein wird
und die daher unter Umständen selbst die Existenz dieser kleinen Organismen
bedrohen könnte.
Sieht man von den Wirren zwischen Staat und Kirche ab, so kann
man sagen, daß sich Deutschland auf fester Basis ruhig und stetig entwickelt.
Oester= Und so ziemlich dasselbe ist der Fall bezüglich Oesterreichs. Es scheint doch,
reich daß der unglückliche föderalistische Versuch unter dem Ministerium Hohenwart-
Schäffle der letzte seines Geschlechtes war. Die Befriedigung der berechtigten
Ansprüche der mannigfaltigen Nationalitäten, die Achtung begründeter An-
sprüche der Kirche uud die Anerkennung der Thatsache, daß in Oesterreich
ein hoher Adel besteht, der an Besitz und Einfluß auf die Bevölkerung eine
ganz andere Rolle zu spielen berechtigt ist als in Westeuropa, sind Momente,
die Oesterreich nicht außer Augen lassen darf, aber auch nicht leicht außer
Augen lassen wird. Dagegen sind dieselben Momente in ihrer einseitigen
und falschen Entwickelung als Nationalismus, Clericalismus und Feudalismus
seine gefährlichsten Feinde, die unablässig an seiner Grundlage nagen und
die es mit starker Hand darnieder halten muß, wenn es seine Einheit nach
innen wie seine Machtstellung nach außen aufrecht erhalten will. Das deutsche
Element, obgleich an sich nur eine Minorität, ist der Kern, an welchen sich
das ganze weite Reich allmälig angesetzt hat und welchem die Aufgabe ge-
worden ist und der es auch als seine Aufgabe erkennt, das Ganze mit
seiner Cultur zu umfassen, zu durchdringen und zusammenzuhalten. Dieß muß
-anerkannt, geschützt und in jeder Weise gefördert werden, was um so leichter ist,
als das deutsche Element überall nur sein gutes Recht, aber in keiner Weise
irgend eine Vergewaltigung auch nur der kleinsten und schwächsten der ver-
schiedenen Nationalitäten des Reichs fordert. Die Eigenartigkeit des Wesens