Italken.
612 Mebersicht der Ereignisse des Lahres 1872.
franz. Gränzen durch die Finger sah. Noch schlimmer gestaltete sich das
Verhältniß zu Italien. Auch in dieser Beziehung standen Hr. Thiers und
seine Politik entschieden nicht auf der Höhe der Zeit. Es galt früher als
ein Axiom franz. Staatskunst, daß, während Frankreich sich immer einheit-
licher gestaltete, Deutschland und Italien um jeden Preis in ihrer damaligen
Zersplitterung erhalten werden müßten, um das Uebergewicht Frankreichs über
beide zu sichern. Hr. Thiers ist in diesen Ideen aufgewachsen und huldigte
ihnen lange Jahre als praktischer Staatsmann. Aber die Zeiten haben sich
geändert, für Deutschland und für Italien ist die neuerrungene Einheit nicht
nur ein Gut von eminentem Werth, sondern ihre Behauptung für das eine
wie für das andere geradezu eine Frage der Existenz, von Sein oder Nicht-
sein. Frankreich muß mit beiden rechnen so wie sie sind und ist absolut
außer Stande, das Geschehene ungeschehen zu machen. Hr. Thiers sah das
auch gar wohl ein, aber es wurmte ihm wie der großen Mehrheit der Fran-
zosen, mit eigenen Händen Italien aufgerichtet zu haben, um es nun mehr
und mehr dem deutschen Einflusse hingegeben zu sehen. Die Folge war
eine sich gar nicht verbergende Abneigung gegen Italien und eine Reihe von
Nergeleien, die, an sich ohne Bedeutung, doch in Italien einen tiefen Sta-
chel gegen Frankreich zurückließen.
Italien fühlte sich verletzt und sogar mehr als verletzt. Frankreich
zeigte eine entschicdene Neigung, den Widerstand der römischen Kurie gegen
das einheitliche Italien zu unterstützen. Die Organe der ultramontanen
Partei in Frankreich verlangten mit großem Nachdruck die Wiedereinsetzung
des Papstes in seine weltliche Herrschaft, die clerical gesinnten Abgeordneten
brachten die Frage sogar in der Nationalversammlung zur Sprache und Hr,
Thiers wagte nicht, der Tendenz geradezu und entschieden entgegen zu treten,
hielt es vielmehr für angemessen, ihr lediglich auszuweichen. Italien fühlte
sich bedroht. Wenn die clericale Partei in Frankreich je die Oberhand ge-
wann, so war ein Krieg gegen Italien theils mit dem Zweck, theils unter
dem Vorwande, dem Papste beizuspringen und ihn wieder in seine „gehei-
ligten Rechte“ einzusetzen, ganz und gar kein Ding der Unmöglichkeit. Die
nächste Folge davon war, daß in Italien die Eventualität, seine Einheit und
seine Unabhängigkeit früher oder später gegen Frankreich mit den Waffen
in der Hand vertheidigen zu müssen, ganz offen besprochen wurde, daß die
Ueberzeugung die Oberhand gewann, es sei durchaus an der Zeit, sich be-
reit zu machen, daß alle Parteien des italienischen Parlaments um die Wette
geneigt waren, dem Kriegsminister alle seine Forderungen für Verstärkung